■ H.G. Hollein: Platzmangel
Die Frau, mit der ich lebe, wirft nichts weg. Das ist an sich löblich. Nur ist unsere Wohnung für eine derart ganzheitliche Lebensauffassung auch nicht annähernd angemessen dimensioniert. Dermaleinst war die Abstellkammer der Stolz Gefährtin. Einen begehbaren Kleiderschrank hatte sie sich schon immer gewünscht. Nach 15 Jahren hat nun die Natur ihr Recht zurückerlangt. Wenn die Gefährtin heute das Gelass betritt, um sich ihre Tagesgarderobe zusammenzustellen, weiß ich, es ist an der Zeit, mit den Vorbereitungen für eine Suchexpedition zu beginnen. Bis jetzt habe ich sie ja auch noch immer aus den Schlingen alter Pulloverärmel befreien und den Tentakeln lange vergessener Jeans entreissen können, aber ich blicke mit Sorge in die Zukunft. Unsere Kleiderschränke haben wir im Laufe der Jahre vom IKEA-Standardmaß auf stattliche 2,40 Meter hochgerüstet. Das hat den Vorteil, dass die oberen Fächer dem stopfenden Zugriff der Gefährtin entzogen sind. Zumindest liegen meine sechs Hemden in den schränkischen Hochlagen sorgsamst gefaltet allzeit bereit. Ich brauche ja ohnehin nicht viel Platz. Aber nun hat die Gefährtin unlängst die Anschaffung neuer Bettwäsche auf die häusliche Tagesordnung gesetzt und zusätzlichen Stauraum angemahnt. Bereitwillig begab ich mich daraufhin auf den Boden, um dort noch den einen oder anderen Kubikmeter freizuräumen. Ich hatte nur vergessen, dass ich diese Idee offenbar vor ein paar Jahren auch schon mal hatte. Nachzusehen, was die Wände des zusammenlegbaren Kleiderschranks unter dem Dach auswärts beult, habe ich mir erspart. Manchmal zeigt die Gefährtin sogar den Anflug eines Einsehens. An ihrem letzten freien Tag überreichte sie mir stolz drei pralle blaue Müllsäcke für die Altkleidersammlung. Aber seitdem läuft sie vorwurfsvoll in löchrigen Leggins durch die Wohnung.
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