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Archiv-Artikel

HARALD HEISKELNEBENBEFUND Nicht glücklich? Dann ab zum Arzt!

Gestresste Patienten meinen, ihnen fehlten Eisen oder Vitamine. Zum Glück fragen sie mich das, denn die Pharmaindustrie würde sie gern mit Antidepressiva beglücken

Ich bin immer so müde“, klagt die Patientin, „diesen Winter war ich schon zweimal krank, jetzt habe ich schon wieder eine Erkältung. Ich möchte mal mein Blut untersuchen lassen, vielleicht fehlt mir was.“

Tja, vielleicht fehlt ihr was. Sie ist 35 und hat einen gut bezahlten Job, der sie sehr fordert. Was könnte ihr fehlen? Zeit? Erholung? Bewegung? Liebe? Sinn? „Was meinen Sie denn, was Ihnen fehlt?“ frage ich sie. „Na ja, Vitamine, Eisen oder so. Vielleicht habe ich ja einen Immundefekt. Diese Müdigkeit ist doch nicht normal.“ Die Patientin hätte also gern einen Mangel an Thiaminpyrophosphat, Tetrahydrofolsäure, Riboflavin, Cobalamin, Selen oder Immunglobulin A. Das klingt auch besser.

Müdigkeit wird von Patienten äußerst häufig beklagt. Selten findet man eine organische Erkrankung bei müden und bislang gesunden Menschen unter fünfzig. Deshalb ermüdet der organisch bislang gesunde Arzt unter fünfzig bei dieser Fragestellung.

Ich exploriere ein wenig das Leben meiner Patientin: Überforderungsgefühle im Job, Spannungen in der Beziehung und allgemeine Unzufriedenheit kommen zutage. Für Sport bleibt kaum noch Zeit, weil sie auch am Wochenende für den Beruf ackert. Aha. Sie ist also nicht glücklich. Ein handfestes Symptom. Ein Mangel. Schließlich hätte sie allen Grund, glücklich zu sein. Wenn sie’s nicht ist, muss sie zum Arzt.

Laut einem Gutachten für den um unser aller Wohl so bemühten Verband der forschenden Arzneimittelhersteller haben 11 Prozent der Bevölkerung eine Depression und damit einen Bedarf an Psychopharmaka. Diesem Gutachten zufolge werden 3 Millionen depressiven Kassenpatienten ihre Antidepressiva vorenthalten. Ein Skandal! Ich wette, meine Patientin würde lieber Vitamine schlucken als Antidepressiva. Nützen würde beides nix. Aber wenn sie’s mit den Vitaminen nicht übertreibt, schaden die weniger. Meine Versuche, Müdigkeit und Infektanfälligkeit auf ihre Lebenssituation zu beziehen, interpretiert sie als Abwehr ihres Anliegens. Ich soll doch gefälligst ihr Blut untersuchen. Ich erwarte mir zwar nicht viel davon, aber da sie 35 Jahre alt ist, hat sie das Recht auf eine sogenannte Gesundheitsuntersuchung. Die untersucht nicht Mangel, sondern Überfluss: zu viel Cholesterin, Zucker, Gewicht oder Blutdruck.

Weil ich meine Patientin nicht vor den Kopf stoßen will, werde ich neben Zucker und Cholesterin auch ein Blutbild machen sowie Schilddrüse und Leber untersuchen. Vielleicht ist sie ja bei der Besprechung der wahrscheinlich normalen Werte eher bereit, Müdigkeit und Infekte als Hinweise auf anstehende Veränderungen ihrer Lebensumstände zu interpretieren.

Der Autor, 43, ist Allgemeinmediziner in Frankfurt/Main Foto: privat