Grüner zu Grundeinkommen: "Eine Idee, die Charme hat"
420 Euro Grundeinkommen für alle - für dieses Modell wirbt Tübingens grüner Oberbürgermeister. Auf dem Bundesparteitag will er trotzdem nicht für die Idee stimmen.
taz: Herr Palmer, Sie sind doch Realpolitiker?
Boris Palmer: Sonst wäre ich sicher nicht Oberbürgermeister.
Aber Sie haben einen Beschluss der baden-württembergischen Grünen unterstützt, der ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle fordert. Ist das Realpolitik?
Es ist sehr realpolitisch, zu fragen, ob unsere Sozialversicherung mit ihrem bürokratischen Aufwand noch zeitgemäß sind. Der Beschluss zum Grundeinkommen hat Schwächen und lässt Fragen offen. Aber er formuliert eine Idee, die Charme hat.
Die Idee ist, allen 420 Euro zu zahlen. Warum kämpfen die Grünen nicht einfach dafür, das Arbeitslosengeld II auf 420 Euro zu erhöhen?
Weil das Arbeitslosengeld II mit Sanktionen verbunden ist, zum Teil mit entwürdigenen Forderungen, dem Offenlegen aller persönlichen Verhältnisse, dem Auszug aus der eigenen Wohnung oder dem Rückzug in die Wohnung der Eltern. Diese Elemente haben wir schon in der Bundesregierung für falsch gehalten. Zudem: Der Vorschlag realisiert endlich das Lohnabstandsgebot. Jeder Job bringt mehr Geld als der alleinige Bezug von Sozialleistungen. Heute haben Geringverdiener vom selbst verdienten Geld oft gerade so viel, wie sie von Hartz IV hätten. Wenn alle die 420 bekämen und bei kleinen Einkommen bis 1.200 Euro teilweise behalten dürfen, wäre dieses Problem gelöst.
Ist es nicht Quatsch, Gutverdienern 420 Euro zu schenken?
So wie das Modell konstruiert ist, würde das Grundeinkommen mit den Steuern verrechnet. Ein Nullsummenspiel für alle, die gut verdienen.
Für die anderen müsste das Grundeinkommen dennoch irgendwie finanziert werden.
Es entstehen natürlich Mehrkosten bei Menschen, die keine oder wenig Steuern zahlen. Die Gegenfinanzierung ist noch ein Schwachpunkt. Ich plädiere eher für höhere Energiesteuern und eine höhere Mehrwertsteuer.
Was würde aus Arbeitslosen- und Rentenversicherung?
Alles bliebe beim Alten. Das Grundeinkommen soll auch nur bis 65 ausbezahlt werden. Das Kindergeld soll in der Grundsicherung von 300 Euro pro Kind aufgehen.
Wie sollen Arbeitslose, die nur die 420 Euro haben, ihre Miete bezahlen?
Das Wohngeld soll weiter gezahlt werden.
Ich dachte, Sie wollten die Kontrollbürokratie loswerden, die nach Persönlichem fragt.
Das ist eben Realpolitik. Wenn man alles auf einmal abschaffen wollte, gäbe es nur noch ein Grundeinkommen. Das ist aber nicht machbar. Deshalb ist eine vereinfachte Bedarfsprüfung fürs Wohngeld sinnvoll.
Würde nicht mit 420 Euro der Anreiz zu arbeiten beschränkt?
Gerade für die Wenigverdiener bleibt nach dem Modell mehr vom verdienten Euro übrig. Und wenn sie Leute mit unseren Einkommen fragen: Glauben Sie ernsthaft, jemand hört auf zu arbeiten wegen der 420 Euro?
Die Grüne Gewerkschafterin Annelie Buntenbach warnt, mit dem Grundeinkommen werde ein Fass aufgemacht zur Subventionierung von Unternehmen. Kombilohn für alle.
Grundeinkommen geht nur mit Mindestlohn. Die Gefahr einer Subventionierung halte ich für beherrschbar. Ich sehe eher Probleme in der Frage: Was kommt zuerst? Können wir ein Grundeinkommen einführen und zugleich bessere Infrastruktur, Bildung und Betreuung schaffen. Da gibt es einen harten Konflikt.
Wäre die Politik nicht sowieso überfordert mit so einem Megaprojekt?
Die Frage ist berechtigt. Deswegen ist die Idee auch nicht geeignet fürs nächste Wahlprogramm. Auch nicht für einen Beschluss auf dem Bundesparteitag im November in Nürnberg. Dort müssen wir erst einmal aufzeigen, wie aus Hartz IV eine menschenwürdige Grundsicherung wird, die bezahlbar ist.
Moment mal: Sie erklären mir ein Modell, das sie auf Landesebene unterstützt haben, und jetzt sagen Sie, dass Sie auf dem Bundesparteitag kneifen?
Meine grundsätzliche Sympathie für ein Grundeinkommen habe ich vor einem Jahr formuliert. Daran halte ich fest. Aber beschlussreif ist die Sache noch nicht. Es sind zu viele Fragen offen. Außerdem habe ich keine Lust, zum Stichwortgeber für Irrealisten zu werden, die behaupten, man könne mit einer Abstimmung über ein Grundeinkommen die Ära Fischer beenden. Das ist ausgemachter Blödsinn und Missbrauch einer Idee. Wir müssen regierungsorientiert bleiben. Und wenn die Diskussion ums Grundeinkommen in so falsches Fahrwasser gerät, muss man sie mal zurückstellen.
Ihr Parteifreund Oswald Metzger ärgert sich über den Beschluss der Südwest-Grünen so, dass er schon wieder Totenglöckchen für die Partei hört.
Die Grünen brauchen dringend neue Ideen, auch kontroverse. Der Parteitag war einzig und allein spannend, als es um dieses Thema ging. Ich will in einer lebendigen Partei sein. Am liebsten auch mit Oswald Metzger.
INTERVIEW: GEORG LÖWISCH
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland