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Aus taz FUTURZWEI

Grünen-Politikerin Ricarda Lang Im Widerstand für alle

Für die einen steht die Politikerin Ricarda Lang für Body Positivity und Emanzipation. Andere halten das für Identitätspolit-Markenkleidung. Eine Annäherung an die Kandidatin für den Parteivorsitz der Grünen.

Ricarda Lang in Berlin Foto: Paula Winkler

Von ARON BOKS

Die Parteizentrale der Grünen in Berlin-Mitte wirkt gerade wie das Setting eines Mitmach-Workshops. Vielleicht liegt das an den ganzen einheitsfarbenen Kissen, Decken und herumstehenden Whiteboards, auf denen Pfeile gekritzelt sind, die auf Wortergänzungen warten. Vielleicht hat es auch etwas damit zu tun, wie die Aufgabe der Grünen von deutschen Medienhäusern beschrieben wird:

»Die Grünen müssen jetzt ihre Kuschelphase beenden.« (Tagesspiegel - November 2019)

»Die Grünen müssen jetzt angreifen!« (t-online, August 2021)

»Die Grünen müssen sich gegen die FDP behaupten.« (FAZ, September 2021)

»Es geht doch nicht, dass andere Parteien vorrangig Männer aufstellen und es am Ende heißt, die Grünen sind verantwortlich, das auszugleichen.« Ricarda Lang

Was die Grünen nicht alles müssen. Ich glaube, keine Partei muss in unserer Gesellschaft so viel wie sie. Aber eine dringliche Sache muss im Januar 2022 tatsächlich vollzogen werden: Die Wahl von zwei neuen Vorsitzenden. Einer neuen und jungen Bundestagsabgeordneten werden generell große Chancen eingeräumt, sich bei den Grünen künftig eine zentrale Rolle zu besorgen. Ricarda Lang, 27, ist bereits eine von zwei stellvertretenden Vorsitzenden. Nun bewirbt sie sich um einen der beiden Chefposten, die durch den Wechsel von Robert Habeck und Annalena Baerbock in die Bundesregierung frei werden.

Als Vorsitzende der Grünen-Jugend war sie frauenfeindlichen Hasstiraden ausgesetzt

An diesem Tag im November ist aber noch keine Bewerbung erfolgt. Die Koalitionsverhandlungen sollen nicht durch Parteipersonalia gestört werden. Ricarda sitzt in der Bundesgeschäftsstelle und bedeutet mir, mich ebenfalls hinzusetzen, während ich mich unabsichtlich kollegial nach den Strapazen der laufenden Koalitionsverhandlungen erkundige. Ricarda lächelt ungefähr so lange wie es dauert, um »Danke für diese Frage« zu sagen.

»Es ist so unfassbar aufregend!«, sagt sie schließlich.

Die Stimmung jedenfalls ist spitze, bis eine Frau mit halblangen blonden Haaren, straffem Gang und wachem Blick durch die Tür tritt – die Pressereferentin der Grünen. Sie scheint nur unwesentlich älter zu sein als Ricarda. Mit konzentriert gesenktem Kopf baut sie rasch drei Gläser wie eine Barrikade zwischen uns auf, drückt auf den Record-Knopf ihres eigenen Aufnahmegeräts, und schaut dann überdeutlich zuerst auf ihre Uhr am Arm, dann auf die an der Wand, um mir wortlos den Satz zu sagen, der später Dreiviertel unseres Schriftverkehrs bestimmt: »Ricarda Lang hat eigentlich gar keine Zeit«.

Verständlich, schließlich warten Sitzungen und genügend andere Journalist:innen, die sie jetzt dringend auch kennenlernen wollen.

Die meisten Deutschen dürften noch nicht von ihrer Existenz wissen, aber denen, die von ihr gehört haben, wurde sie als Vorsitzende der Grünen-Jugend bekannt, gegen die sich Hasstiraden richteten, welche sich auf ihre Rolle als Frau sowieso und darüber hinaus – ihre Körperproportionen beziehen.

Reale politische Arbeit statt Ablenkungsdebatten

Sie wehrte und wehrt sich und inspiriert damit Tausende von Follower:innen auf Instagram und Twitter.

Für manche bedeutet #Ricarda_Lang seither Body Positivity und Emanzipation. Für andere bedeutet all das eilig zusammengeklaubter Identitätspolitikstoff beim Nähen der eigenen woken Politmarkenkleidung, die eher schick aussieht als warmzuhalten.

Und für sie selbst?

Wieder dieses dankbare Lächeln. Sind meine Fragen wirklich so vorhersehbar?

»Das sind doch Ablenkungsdebatten«, sagt Ricarda und wischt mit einer Hand durch die Luft, als wären meine Gedanken nie ganz zu vertreibende Stubenfliegen. »Das ist wie diese nervige Debatte übers Gendersternchen, die vor allem von Konservativen geführt wird. Wenn man sich meine Arbeit in den letzten Jahren anschaut, sieht man, dass ich mich lieber damit beschäftige, wie wir Frauenhäuser verlässlich finanzieren, Pflegekräfte besser bezahlen und die Lohnlücke schließen können.«

Die Macht, Veränderung zu bewirken

»Mal ganz kurz und nur damit, das gleich vom Tisch ist«, sage ich und gucke etwas entschuldigend zu der Pressereferentin: »Wieso bist du eigentlich nicht in der Linkspartei?«.

Bei den Grünen, die sie im ländlichen Raum von Baden-Württemberg kennengelernt hatte, sei sie schon am richtigen Ort, primär durch die Vereinbarung von Klimaschutz mit sozialen Fragen wie Sozialpolitik und Gleichstellung. Aber da gäbe es noch eine Sache, die sie von der Linkspartei trenne, wie sie sagt. Dabei hält sie einen Finger in der Luft und greift nach einem Wasserglas, das hastig von ihr ausgetrunken und von der Pressereferentin aufgefüllt wird, »Die Machtfrage«.

Bei diesen Worten klingt sie genauso heiser wie in den Videos der letzten Monate, die ich von ihr gesehen habe. »Für Veränderung braucht es nämlich Macht. Jetzt haben wir die Möglichkeit, das durchzusetzen und damit die Lebensrealität von vielen Menschen zum Besseren zu verändern. Und die Macht dafür zu beanspruchen, finde ich richtig und gut.«

Die Pressereferentin nickt zaghaft wie zu sich selbst und zum Aufnahmegerät. Auch ich nicke und weiß doch noch nicht, welche Menschen Ricarda Lang genau damit meint.

Mitbewerber Omid Nouripour als Gegenentwurf zu Ricarda Lang

Notiz: Idee für ein Trinkspiel mit wenig Zeit, aber großem Durst: einfach mal eine Reihe Interviews von Grünen-Politiker:innen ansehen und immer dann trinken, wenn jemand davon spricht, jemanden »mitzunehmen«, zu »überzeugen« oder »anzusprechen«. Das denke ich, während Ricarda meine Frage, ob sie der Erfolg der Kretschmann-Grünen in ihrem Bundesland inspiriert, einerseits mit Lob gegenüber dem errungenen Vertrauen »der Menschen« in grüne Politik beantwortet, andererseits mit ihrer eigenen Mission, »nicht nur Politik für die zu machen, die die Grünen gewählt haben, sondern für alle in diesem Land«.

Der Mann, der neben Ricarda Lang für einen Platz in der Vorsitzenden-Doppelspitze kandidiert, heißt Omid Nouripour. Jahrgang 1975, Muslim und Hesse aus Frankfurt am Main – quasi der Gegenentwurf zu Ricarda Lang – ein alter, männlicher Städter mit Migrationshintergrund. Und Direktmandat.

Während er aber im Bundestag etwa durch den Autobahnausbau und die Einhausung der A661 sowie einem Fluglärmschutzgesetz hessische Themen im Bundestag vertreten will und damit auf liberales Echo stoßen dürfte, betont Ricarda Lang vehement, sich in ihrer Arbeit für die Ärmeren und auch darüber hinaus vor allem für Diskriminierte und Minderheiten in der Gesellschaft einzusetzen, um damit wiederum alle Menschen anzusprechen. Bisher klappt das eher mäßig. Während die Funktionär:innen sie auf einen sicheren Listenplatz setzten, verpassten ihr die Leute das zweitschlechteste grüne Erststimmenergebnis im Bundesland. 11,5 Prozent, das ist für Baden-Württemberg supermau.

Für eine feministische Bundesregierung

Auf dem digitalen Parteitag der Grünen, auf dem Landeskollege Winfried Kretschmann an Anti-Atomkraftproteste aus den 70ern und das gesamtgesellschaftliche Engagement als Motor, bis heute Erfolgsrezept der grünen Bewegung seines Landes, erinnert hatte, verspricht Ricarda Lang, für eine feministische Bundesregierung zu arbeiten.

Jetzt erinnere ich mich daran, was sie mir fast zu Beginn unseres Treffens gesagt hatte: »Meine Mutter hat in einem Frauenhaus gearbeitet. Und man kann sich das ja vorstellen: immer kurz vorm Burnout, immer zu wenig verdient. Dann hat sie ihren Job verloren, weil das Haus einfach kein Geld mehr hatte. Für mich war das der Auslöser, in die Politik zu gehen – und diese Themen beschäftigen mich bis heute: Wie wird mit Frauen umgegangen, wessen Arbeit ist wie viel wert und wie kann man davon leben?«.

Mit diesen Fragen wurde sie Jugend-Vorsitzende der Grünen, betonte, das alles noch einmal auf dem digitalen Parteitag und wiederholte auch dort ihre Schlussworte, die sich an ihre Hater aus dem Netz richteten, »an die Feinde unserer Demokratie«: »Meine Resignation bekommt ihr nicht. Dafür unser aller Widerstand!«. Es ist der neue Funktionär:innen-Vibe – jung, divers, emanzipatorisch, der endlich junge Menschen in Machtpositionen bringt, der aber ältere Wähler:innen abschrecken könnte, da den Politiker:innen … oh Gott … wenig Zeit blieb, die richtige Arbeitswelt kennenzulernen. Tatsächlich sind eine Reihe der jungen neuen Bundestagsabgeordneten gelernte Berufsfunktionär:innen, Kevin Kühnert etwa. Auch Ricarda Lang hat nach dem Abi in Nürtingen einige Jahre Rechtswissenschaften in Heidelberg und Berlin studiert, das aber 2019 aufgegeben, um Fulltime-Politik zu machen.

Gegen das »Establishment« aus homophoben, misogynen und/oder rassistischen Machthaber:innen

Ähnlich wie einst die 68er lehnt auch diese neue Generation das »Establishment« und die das Problem verdrängende Mehrheitsgesellschaft ab, nur dass dieses Establishment für sie nicht mehr aus zu bekämpfenden Altnazis, sondern aus homophoben, misogynen und/oder rassistischen Machthaber:innen besteht, deren Anhänger Hass auf Menschen wie Ricarda Lang richten, die sich diesem wiederum stellt – all diesen Shitstorms und Hasskommentaren.

Vor Kurzem berichtete Ricarda Lang im Tagesspiegel zudem über ihre Bisexualität, was ihr den Titel »erste offen bisexuelle« Politikerin im Bundestag einbrachte. Richteten sich ihre politischen Adressierungen bisher vor allem an Diskriminierte, Pflegekräfte und Frauen im Allgemeinen, schließt sie damit auch besonders bisexuelle Menschen mit ein. Aber mit welcher Form von konkreter Politik funktioniert das?

»Das ist das Problem dieser heteronormativen Gesellschaft«, sagt Constanze Schmied in der wohl bekanntesten »All People are Welcome«-Schwulenbar Berlins, dem Ficken3000. Auf Instagram protestiert sie für LBTQI-Politik, schreibt Gedichte und rollt das R so südbayerisch schön, besonders bei dem Wort Rrrricarrrrda.

Sichtbarkeit für bisexuelle Politiker:innen

»Wo liegen denn die Probleme für bisexuelle Menschen in unserer hetero-normativen Gesellschaft?«, frage ich also in meiner überambitionierten Ingo-Zamperoni-Stimme.

»In solchen Fragen!«.

Guter Punkt.

»Dass Ricarda Lang von dringender Sichtbarkeit für bisexuelle Politikerinnen spricht, kommt nicht von ungefähr«, sagt sie. »Wie oft muss man als bisexuelle Person hören, dass man ›nur in einer Phase‹ stecke oder sich ›noch nicht entschieden habe‹, ›sich mal ausprobieren will‹. Und wenn du dann auf den ersten Blick schwul wirkst, weil du gerade mit einem Mann zusammen bist, bist du ja auch als Bisexueller derselben homosexuellen Diskriminierung ausgesetzt wie eben Schwule.«

Bestimmte Themen werden zu ›grünen Interessen‹ gemacht

»Sag mal, nervt es dich nicht auch, dass irgendwie jede:r zu wissen glaubt, was die Grünen tun müssen?«, frage ich Ricarda bei unserem zweiten Treffen und schaue dabei auf das Whiteboard im Büro ihrer Vorstandskollegin Jamila Schäfer. Darauf steht die dringliche handgeschrieben Frage: »Wie fühlst du dich?«

»Bestimmte Themen werden zu ›grünen Interessen‹ gemacht, weil wir da einen hohen Anspruch haben,« sagt Ricarda. »Das ist nicht richtig, passiert aber leider auch jetzt in den Koalitionsverhandlungen. Nehmen wir das Beispiel Parität: Es geht doch nicht, dass andere Parteien vorrangig Männer aufstellen und es am Ende heißt, die Grünen sind verantwortlich, das auszugleichen.«

Steilvorlage, denke ich.

»Aber war euch nicht wirklich viel wichtiger, mit Annalena Baerbock eine Kanzlerinnenkandidatin aufzustellen, um eine Kanzlerinnenkandidatin zu haben als wirklich ins Kanzleramt zu ziehen?«. Für einen Moment denke ich, ich sei ein ganz gewitzter Reporter.

Der große Grüne Workshop

»Das war für mich nicht der entscheidende Punkt. Im Nachhinein ist es natürlich immer schwer zu sagen, wer mehr oder weniger Erfolgsaussichten hatte. Das ist pure Spekulation.« Ich nicke der Pressereferentin als erstes zu.

»Annalena steht für einen neuen Führungsstil«, sagt Ricarda. »Sie ist mutig, hat eine klare Vision, wo es hingehen muss, und das Talent, Leute mitzunehmen.«

Und während Ricarda Lang das sagt und dabei mit ihren Händen ihre Sätze hörfreundlich portioniert und dabei so verständnisvoll und gelassen aussieht, als würde sie einem Nachhilfeschüler eine komplizierte Gleichung erklären und gleichzeitig wissen, dass diese Gleichung gar nicht kompliziert ist, weiß ich endlich, wie ich mich mit ihr fühle: als sei ich Teil des großen Grünen Workshops.

ARON BOKS, 24, ist Slam Poet, Schriftsteller und Journalist. Er gehört zum Wahlcamp 21 der taz.

Dieser Beitrag ist in taz FUTURZWEI N°19 erschienen.