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Der Kommentar

Grüne nach der Niederlage Zurück in die Blase?

SPD und Grüne könnten die zentralen Konkurrenten um die politische Führung der Republik werden. Doch sind die Grünen dafür bereit?

„Das ist ein historischer Moment.“ Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock nach der zweiten Sondierung mit der FDP am 1. Oktober in Berlin Foto: dpa

Von UDO KNAPP

Habe ich da nicht richtig hingesehen am letzten Sonntag? Hat Annalena Baerbock (Grüne) an der Seite von Christian Lindner (FDP) etwa die Bundestagswahlen gewonnen? Diktieren die beiden jetzt Herrn Scholz oder irgendeinem, noch nicht ausgekegeltem CDU-Helden, wie es weitergehen soll beim Bundesregieren in Berlin? Wollen SPD/ CDU, Grüne und FDP tatsächlich die historisch-notwendige Klimaallianz bilden, von der Baerbock redet? Soviel gemeinsame Wirklichkeitsverweigerung auf einmal – das verschlägt die Sprache.

Tatsache ist: Die Grünen sind mit der Zuspitzung auf Kanzlerkandidatin Baerbock von 30 Prozent Zustimmung auf reale 15 Prozent aller Stimmen abgesackt. Die Chance haben sie selbst verspielt, beim Aufbruch in das ökologische Zeitalter über alle sozialen Schichten hinweg führende, grün-linke und gleichzeitig bis weit in die Mitte offene Volkspartei zu werden und so das Kanzleramt zu übernehmen.

Tatsache ist: Wahlsieger Olaf Scholz ist mit 25 Prozent der Stimmen chancenlos weit weg von den fast absoluten Mehrheiten der großen alten SPD zu Willy Brandts Zeiten. Die SPD als linksolidarische Volkspartei gibt es schon lange nicht mehr. Die konstant 15 Prozent der vielen Monate vor der Stimmungswende beschreiben die Stellung der SPD unter den Bürgern sehr präzise.

Die CDU als konservative Volkspartei gibt es nicht mehr

Tatsache ist: Die CDU unter Laschet hat mit 24 Prozent der Stimmen nur unbeachtlich knapp verloren. Die Partei ist von den regelmäßig fast absoluten Mehrheiten Adenauers, Kohls und auch Merkels chancenlos weit entfernt. Die CDU als konservative Volkspartei, als ewiger Hegemon der deutschen Politik, als Sicherheitsanker in den unübersichtlichen Wogen und Wegen des ökologisch bestimmten Wandels, sie gibt es nicht mehr.

Tatsache ist: Die FDP unter Lindner hat mit ihren 11 Prozent die von der CDU frustrierten Bürgerstimmen übernommen. Die hoffen darauf, dass die FDP das als freiheitlich verkaufte Grundrecht auf ein unverantwortliches Wohlleben der Besserverdienenden sicherstellt, was auch immer der ökologische Wandel die gesamte Gesellschaft kosten wird.

Ganz gleich, ob die nächste Bundesregierung rot-grün-gelb oder schwarz-grün-gelb blinken wird, die halbherzige Geschaftlhuberei auf allen Ebenen der Politik wird weitergehen wie bisher. Möglicherweise mit kleinen, sicher auch mal bedeutenden Fortschritten, aber dass das ausreichen wird, die Folgen des Klimawandels rechtzeitig, Zukunft sichernd und Zukunft schaffend einzuhegen, ist eher nicht zu erwarten.

Die Grünen haben das historische Momentum auf ihrer Seite

Olaf Scholz hat seine strategische Maxime offengelegt. Mit seiner Regierung will er eine sozialdemokratische Hegemonie für das nächste Jahrzehnt begründen. Er will so regieren, dass er mit seiner SPD auch 2025 wieder gewinnen wird. Dazu muss er politikpraktisch sicherstellen, dass die Grünen ihren Aufstieg zur Volkspartei der linksbürgerlichen, ökologischen Mitte auch in Zukunft nicht hinbekommen. SPD und Grüne sind für die nächsten Jahre die zentralen Konkurrenten um die politische Führung in der Republik, obwohl sie möglicherweise gemeinsam regieren.

Die Grünen haben in dieser Auseinandersetzung das historische Momentum auf ihrer Seite. Ganz anders als die an den Ausbau des Sozialstaates gefesselte SPD oder die den Status Quo auf allen Ebenen bloß sichernde CDU, könnten sie eine Politik konzipieren, die „Nachhaltigkeit und Ordnungspolitik zu einem Mindestmaß an neuer Statik und dauernder Stabilität“ verbindet, wie Stefan Kolev in der FAZ schrieb. Die Bürger könnten auf diesem Weg sicher sein, dass die unvermeidbaren Kosten des ökologischen Wandels langfristig gesehen mit einer breit akzeptierbaren Ungerechtigkeitssicherheit verteilt werden.

Das meint: Es wird nicht gelingen, die Bewältigung der Klimakrise als „Gerechtigkeitsgewinn“ für die ganze Gesellschaft zu organisieren. Es wird neue und alte Gewinner und Verlierer geben. Nach der bewältigten Klimakrise wird auch das Oben und Unten nicht verschwunden sein. Bei kluger Politik werden Nachhaltigkeit und Ordnungspolitik aber mit neuen Strukturen so austariert, dass die mitgebrachten neuen und alten Ungerechtigkeiten von der ganzen Gesellschaft nicht nur ausgehalten, sondern ertragen werden können.

Die Grünen haben im Wahlkampf lediglich die eigene Blase adressiert

Einen solchen nachhaltigen und ordnungspolitischen Ansatz verfolgen die regierenden Grünen von Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg seit langem mit wachsendem Erfolg. Im Bund dagegen haben die Grünen um Annalena Baerbock in diesem Wahlkampf, wie schon so oft in früheren Jahren, lediglich das selbstbezogene, moralisch aufgeladene Adressieren der eigenen politischen Blase, das fortwährende Bedienen des eigenen Milieus zelebriert. 15 statt 30 Prozent ist exakt die Folge dieser Adressaten-Reduzierung. Auch wenn die Grünen damit ihre Stimmen insgesamt deutlich erhöhen konnten und eine ganze Reihe an Direktmandaten gewonnen haben, rechtfertigt dieser Erfolg nicht, die strategische Niederlage jetzt schön zu reden.

In welcher Regierungskonstellation auch immer: Die Grünen sind nach dieser Bundestagswahl wieder in der von ihnen so geliebten Rolle angekommen. Das ist die Rolle des sui generis und mit Lust opponierenden Juniorpartners. Es ist durchaus offen, ob sie die Kraft finden werden, eingeklemmt zwischen SPD/CDU und FDP, ihren historischen Auftrag wieder aufzunehmen – das ist der Kampf um Platz 1 auf der politischen „Rennebahn“ (Andreas Gryphius) der Bundesrepublik.

UDO KNAPP ist Politologe und Kolumnist für taz FUTURZWEI.