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■ Grüne Klage wegen Überhangmandaten beim BVGWahlen als Glücksspiel

Deutschland hat gewählt. Aber es hat nicht bekommen, was es gewählt hat. Wer in der Wahlnacht nach der Auszählung aller Wahllokale und Stimmkreise schlafen ging, durfte gerade noch eine Nacht lang davon träumen, wie spannend und schicksalhaft fortan jede einzelne Abstimmung werden würde – angesichts der hauchdünnen Mehrheit von nur zwei Stimmen, angesichts des längst aufgezehrten Vorrates an Gemeinsamkeiten und angesichts der zentrifugalen Kräfte in der Koalition.

Am Morgen dann mußten wir uns staunend die Augen reiben: Wie von Geisterhand hatte die CDU über Nacht noch zwölf, die SPD vier Mandate hinzugewonnen. Diese wundersame nächtliche Mandatsvermehrung, genauer: diese Mandatsschöpfung aus dem Nichts widerspricht allen Grundsätzen unseres Wahlrechtes, verhöhnt das Grundgesetz, das Demokratieprinzip und die WählerInnen und bringt die Parlamentswahlen in die Nähe eines Lotteriespieles. Sie kann jedes Wahlergebnis in sein Gegenteil verkehren.

In der Demokratie ist das Volk der Souverän. Jede politische Entscheidung muß sich letztlich auf ihre mittelbare oder unmittelbare Legitimation durch das Volk als eigentlichen Träger der Staatsgewalt berufen können. Das Grundgesetz eröffnet hierfür zwei Möglichkeiten: Wahlen und Abstimmungen. Solange es uns nicht gelungen ist, endlich auch Volksabstimmungen auf Bundesebene – etwa zur Atomenergie oder zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr – durchzusetzen, bleiben Wahlen die einzige Möglichkeit für das Volk als Träger der Staatsgewalt, seinen politischen Willen rechtsverbindlich zu äußern. Auch sämtliche parlamentarischen Entscheidungen wie Regierungsbeschlüsse begründen ihre Legitimität einzig aus dem Wahlakt. Deshalb ist die Gestaltung des Wahlrechts eine der wichtigsten und sensibelsten Fragen der Demokratie.

Generationen haben dafür gekämpft, Tausende ihr Leben dafür gelassen, daß jeder Mensch, unabhängig von seinen Ansichten und Fähigkeiten, seiner Herkunft oder seinem Geschlecht, den gleichen Einfluß auf die Zusammensetzung des Parlaments und die dort gefällten politischen Entscheidungen haben muß: „One person, one vote“! Da im Wahlrecht kein bestimmter Inhalt, sondern nur das Regelwerk des demokratischen Konkurrenzkampfes beziehungsweise der Ausübung der politischen Willensbildung durch das Volk formuliert ist, sollte es eigentlich im Konsens aller Parteien beraten und beschlossen werden. Doch weil Wahlrechtsentscheidungen im Bundestag mit einfacher Mehrheit gefaßt werden können, gestalteten die großen Parteien das Verfahren immer wieder einseitig zu ihren Gunsten.

Dagegen halfen auch die besten Argumente nichts – nur das Gericht konnte den von blinder Machtgier getriebenen Gesetzgeber mehrmals wieder zur Vernunft und auf den Boden der Verfassung zurückbringen. So konnten Bündnis 90/Die Grünen in den letzten Jahren sowohl eine Korrektur des usurpatorischen Wahlrechts zu den ersten gesamtdeutschen Wahlen als auch eine Veränderung des jahrzehntelang verfassungswidrig die CSU begünstigenden bayrischen Wahlrechtes erzwingen.

Es ist keine Frage: Wenn sich das Verfassungsgericht an seine bisherige Rechtsprechung hält, kann es den Trick mit den Überhangmandaten nicht durchgehen lassen. Denn in all seinen Entscheidungen hat es als obersten Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit den des gleichen Zähl- und Erfolgswertes oder des gleichen rechnerischen Gewichtes jeder einzelnen Stimme aufgestellt. Bei der letzten Bundestagswahl aber waren nicht alle Stimmen gleich – einige waren gleicher. So benötigten zum Beispiel Bündnis 90 /Die Grünen für jedes einzelne Mandat mit 69.859 fast 4.000 Stimmen mehr als die CDU, der die Mandate gleichsam zum Billigtarif nachgeschmissen wurden (65.940).

Noch deutlicher wird es bei folgender Rechnung: Die CDU hat real 800.000 WählerInnen weniger, als ihre 244 Mandate mathematisch vermuten lassen; sie vertritt also künftig in jeder Abstimmung 800.000 imaginäre, gar nicht vorhandene Wählerstimmen. Damit entspricht der 13. Deutsche Bundestag in keiner Weise mehr dem sogenannten Wählerwillen. In Kürze soll schon mit Hilfe dieser Gespensterstimmen ein Kanzler gewählt werden, wenn das Bundesverfassungsgericht nicht noch einen Strich durch die Rechnung macht.

Das aber wird es tun müssen, wenn es sich selbst noch ernst nimmt. 1988 ließ es die Verzerrung durch nur ein Überhangmandat gerade noch durchgehen, weil sich „die Verstärkung des Gewichts der für die CDU abgegebenen Wählerstimmen“ durch dieses eine Überhangmandat noch „im Rahmen der durch das Sitzverteilungsverfahren ohnehin vorgegebenen und unvermeidlichen Differenzierung des Stimmengewichts der für die verschiedenen Parteien abgegebenen Wählerstimmen“ bewegt. „Die engen Grenzen, in denen die Differenzierung des Stimmengewichts notwendigerweise zulässig ist, werden also durch den Anfall eines Überhangmandats für die CDU nicht überschritten.“

Diese „engen Grenzen“ aber wurden diesmal um ein Vielfaches überschritten. Damit wird der vom Verfassungsgericht bereits angesprochene und nebenbei in mehreren Ländern schon lange praktizierte Ausgleich zwingend erforderlich. Hierbei werden die Überhangmandate durch zusätzliche Listensitze für die anderen Parteien ausgeglichen, bis die Sitzverteilung wieder mit dem Wahlergebnis übereinstimmt.

Weit problematischer als das Verfahren in Karlsruhe selbst aber ist der Weg dorthin. Der vom Frankfurter Staatsrechtler Hans Meyer eingeschlagene Weg über einen Einspruch beim Wahlprüfungsausschuß des Bundestages und eine eventuelle spätere Wahlprüfungsbeschwerde beim Karlsruher Gericht ist langwierig und mühsam. Erfolgsträchtiger und zielführender wäre sicherlich ein Normenkontrollverfahren. Dieser Weg steht aber nur einem Drittel des Parlamentes oder einer Landesregierung offen. Bleibt für Bündnis 90/Die Grünen als letzte Möglichkeit eine Organklage, deren verfassungsprozessuale Chancen und Grenzen gerade geprüft werden. Organklageberechtigt ist sowohl Fraktion wie Partei. Sie können klagen, wenn sie durch ein Gesetz oder eine Entscheidung in ihren Rechten verletzt wurden und seither nicht mehr als sechs Monate vergangen sind. Mit der von den Grünen eingereichten Klage soll nicht etwa das Ergebnis der Wahl korrigiert werden – es soll überhaupt erst hergestellt werden.

Der Kampf für mehr Demokratie wird damit übrigens noch lange nicht beendet sein. Im Gegenteil: Schon jetzt faseln mit dem Ergebnis immer noch unzufriedene Unionsabgeordnete vom Mehrheitswahlrecht. Die wichtigeren Dinge müssen wir selbst erkämpfen: das vollständige (und nicht nur kommunale) Wahlrecht für alle, die rechtmäßig hier leben und die Möglichkeit zu Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden. Gerald Häfner

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