Grigori Pantijelew über jüdisches Leben: „Das war die Überlebenchance“
Die Nazis hatten Grigori Pantijelews Familie dezimiert, dennoch kam er nach Deutschland. Als Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Bremen will er denen ein frommes Leben ermöglichen, die es führen wollen.
taz: Herr Pantijelew, spricht man in der jüdischen Gemeinde Russisch oder Deutsch?
Grigori Pantijelew: Wir haben als Amtssprache Deutsch.
Und die gelebte Sprache?
Die Gemeinde lebt drei Sprachen. Die Sprache des Gottesdienstes ist Hebräisch, wir bieten auch Kurse dafür an. Übrigens auch Jiddisch-Kurse. Diejenigen, die aus der ehemaligen Sowjetunion gekommen sind, reden untereinander selbstverständlich russisch. Wir haben nur noch einige wenige Mitglieder, die kein Russisch verstehen – so versuchen wir in den Veranstaltungen für eine Übersetzung in beide Sprachrichtungen zu sorgen.
Wie war das früher?
Vor 20 Jahren war es umgekehrt, dass wir ins Russische übersetzt haben. Die jüngere Generation spricht natürlich überwiegend deutsch. Der Wandel braucht zwei Generationen.
Und der Kindergarten?
Das ist für alle Kinder der Stadt eine offene Einrichtung, es wird die jüdische Tradition gepflegt und selbstverständlich deutsch gesprochen.
Was wäre aus der jüdischen Gemeinde geworden, wenn die Vereinbarung zwischen Helmut Kohl und Michail Gorbatschow nicht die Ausreise der russischen Juden ermöglicht hätte?
Die Gemeinde würde nicht mehr existieren. Das war die Überlebenschance für das jüdische Leben in Deutschland. Die Gemeinde in Bremen hatte vorher vielleicht 120 Mitglieder.
Und jetzt?
Um die Tausend.
Dieses jüdische Leben haben die, die aus der sowjetischen Diaspora kamen, verstärkt?
Die jüdische Tradition ist selbstgenügsam und selbstbewusst. Die Juden, die aus der Sowjetunion gekommen sind, haben eine andere Vorstellung von jüdischer Identität. Die wenigsten haben in Russland als Juden gelebt. Es war nicht ihr Manko, sondern ihre Tragödie: Juden wurden in Russland seit je verfolgt. Die zaristischen Pogrome waren die ersten der Neuesten Zeit. So darf es nicht wundern: Die Juden mussten in der bolschewistischen Revolution zunächst eine Befreiung sehen. Viele haben sich an der Revolution beteiligt.
Mit welcher Auswirkung?
Der Preis war: Wir verzichten auf die jüdische Tradition und sind dabei, wenn der neue sowjetische Mensch entsteht. In der Stalinzeit kehrte der alte Antisemitismus zurück und die Juden bekamen zu spüren, was der real existierende Sozialismus bedeutet. Aber da war es zu spät, die eigene kulturelle Tradition wurde verleugnet.
Was geschah nach dem Ende der Sowjetunion?
Als das Sowjetimperium zerfiel, erstarkte der Antisemitismus im Alltag. Viele wollten ausreisen. Inzwischen gab es viele gemischte Familien, deren Kinder nach dem sowjetischen Gesetz als Juden galten, egal ob der Vater oder die Mutter jüdisch waren. Viele sind somit nicht Juden im Sinne des Judentums, sie wurden aber ebenso von dem Antisemitismus betroffen.
geboren 1958, studierte und promovierte am Moskauer Konservatorium, arbeitet heute in Bremen als Dirigent des Alt-Hastedter Kammerorchesters und als Musikdozent im Bereich der Weiterbildung. Es geht ihm darum, Menschen ohne Vorkenntnisse mit den Geheimnissen der Musik vertraut zu machen.
Entscheidend ist die Mutter.
So ist es. Es sind viele Juden nach Deutschland gekommen, denen die jüdischen Gemeinden gesagt haben: Ihr könnt nicht Mitglied werden, ihr seid gar keine Juden.
Wäre es nicht nett gewesen, wenn die jüdischen Gemeinden sie aufgenommen hätten?
Nach unserem halachischen Gesetz geht es nicht. Unsere Lösung ist, dass wir eine assoziierte Mitgliedschaft ermöglichen. Unser Rabbiner hat erreicht, dass sie auf dem neuen jüdischen Friedhof in Bremen neben ihren Familienangehörigen begraben werden dürfen. Das musste das Oberrabbinat Israels erlauben, gegen den Widerstand mancher Kollegen.
Diese Bindung an viertausend Jahre alte Traditionen ist die Stärke der jüdischen Tradition – mit ihrem ganzen Starrsinn.
Das Judentum lebt als Religion und als Volk. Es gibt die alten Riten, die beibehalten werden, aber die werden flexibler gelebt, als man das vielleicht von außen sehen kann. Es gibt eine Gruppe von frommen Juden, die den harten Kern des Judentums bilden und die Tradition weiter pflegen, die werden von den anderen, den säkularen oder liberalen Juden respektiert. Die Orthodoxen sind diejenigen, die die Tradition weitergeben. Nur mit diesem starken Willen konnte das Judentum in den schwierigsten Phasen der Geschichte überleben.
Sie selbst sind einer von den Russen, in deren Pass stand, sie seien Juden?
In der Kindheit meines Vaters war das jüdische Leben noch sehr präsent. Ich habe als Kind die Pessach-Feste miterlebt, das war sehr schön. Ich wusste aber nicht, was das ist, das wurde mir nicht erklärt. Meine Eltern wollten meine Kindheit damit nicht belasten. Vierzig Pantijelews sind in der Shoah in Weißrussland ermordet worden, mein Vater ließ deren Namen in Yad Vashem eintragen.
Wie haben Sie das herausbekommen?
Dass ich ein Jude bin, erfuhr ich als Schimpfwort in der Schule, ich war vielleicht acht. Ich kam dann nach Hause und habe gefragt, ob mein Opa auch ein Jude sei. Erst dann haben meine Eltern mir davon erzählt. Die erste richtige Begegnung damit, was es heißt, Jude zu sein, hatte ich bei der Aufnahme ins Moskauer Konservatorium, da war klar, dass ich weniger Rechte hatte als die anderen. Die jüdische Tradition zu leben bedeutete im Zweifelsfall Sibirien. Ich wollte mich nicht gleich als Dissident definieren, ich wollte ein einigermaßen normales Berufsleben. Ende der 80er Jahre wurde der Antisemitismus dann unerträglich. Ich habe zwei Freunde verloren, die ermordet wurden, nur weil sie jüdisch aussahen.
Konnten Sie damals Deutsch?
Dank meiner Arbeit als Musikwissenschaftler konnte ich Deutsch zumindest lesen. Ich hatte eine wunderbare Lehrerin am Konservatorium, die Deutsch perfekt beherrschte, sie war 1937 für 17 Jahre als „Volksfeindin“ ins Lager geschickt worden. Da ich in Moskau einen unbekannten Brief von Johann Sebastian Bach entdeckt hatte, wurde ich 1985 nach Leipzig zu einem musikwissenschaftlichen Kongress eingeladen. Deutsch zu sprechen habe ich erst hier gelernt. Die Entdeckung der jüdischen Tradition war für mich dann auch erst in Deutschland möglich geworden, hier in der jüdischen Gemeinde.
Sie haben dann hier doch nicht ein normales Leben begonnen, sondern sind stellvertretender Gemeindevorstand.
Wäre es denn normal, wenn ich meine jüdische Identität leugnen würde? Nein, das war für mich so etwas wie eine Verpflichtung. Ich werde wohl nicht mehr so fromm werden, wie mancher das wünscht. Aber ich sehe es als meine Aufgabe an, denen, die es wollen und können, zu ermöglichen, fromm zu werden. Das ist mein Ehrenamt.
Sie betonen die Rolle der Orthodoxen für die Tradition des jüdischen Lebens – in der Politik in Israel sind die Orthodoxen doch eher ein Problem, weil sie nicht kompromissfähig sind.
Wissen Sie, ich könnte jetzt sagen: Die Juden waren schon immer ein Problem. Diejenigen, die darauf bestehen, dass sie ultra-orthodox sind, sind sehr rigoros in ihrem Aussehen und ihrem Benehmen. Das sind aber nur Teile der bunten Gesellschaft. Das Lob der Orthodoxie kann man nur aus der Geschichte begreifen. Die Orthodoxen sind die, die für die Aufrechterhaltung der jüdischen Tradition sorgen. Das ist deren Mission. Nur in Israel können sie leben, wie sie es wünschen. Die israelische Gesellschaft entscheidet in einer demokratischen Wahl, wie viel Gewicht sie haben sollen.
Eine kompromissfähigere israelische Politik würde mehr internationale Unterstützung bekommen.
Dem kann ich nicht zustimmen. Ich erlebe derzeit eine Obsession in der Gesellschaft, sich mit der israelischen Politik zu beschäftigen. Das ist nicht normal. In Deutschland laufen mit einer erstaunlichen Regelmäßigkeit die Debatten darüber, neulich wollte auch der Bundestag einstimmig Ratschläge erteilen.
Warum ärgert Sie das?
Die Gesellschaft in Israel wird ihre Probleme selbst lösen. Und diese Diskussionen werden sehr schnell emotional. Wenn Sie die Leserbriefe und die Internet-Foren ansehen, wissen Sie, wie diese Diskussion alte Ressentiments aufwühlt. Was mich dabei stört, ist die Disproporz: Ignatz Bubis war so gut wie allein im Streit mit Martin Walser, Henryk M. Broder muss sich so gut wie allein im Streit mit Jakob Augstein behaupten.
Dass Deutsche sich mehr mit Israel beschäftigen als mit Mali, das ist doch nachvollziehbar aufgrund der historischen Zusammenhänge.
Die Diskussion bietet immer noch die Projektionsfläche für die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Die Diskussion entscheidet immer noch zwischen dem guten und dem bösen Juden, wie auch zwischen den toten und lebenden Juden deutlich unterschieden wird. Ist denn das normal?
Sollte sich die Jüngeren in Deutschland nicht mehr für Israel interessieren als für Mali?
Das wäre ein Zeichen der Normalität.
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