: Grausamkeit bleibt Grausamkeit
Hanny Lightfoot-Klein, Afrika-Abenteurerin, Rucksackforscherin der 70er-Jahre und Überlebende des Holocaust, hat unrühmliche Kapitel der amerikanischen Medizingeschichte ausgegraben und in einem Buch veröffentlicht
1862 schreibt die San Francisco Medical Press: „Dr. E. S. Cooper verglich zwei Fälle von mit dem Skalpell durchgeführten Entfernungen der Klitoris bei jungen Mädchen, die gewohnheitsmäßig der Masturbation verfallen waren und für die es keine Alternative gab als die hoffnungslose Geisteserkrankung oder ein frühes Grab. Das Ergebnis war die perfekte Heilung in einem Fall. Im anderen Fall wurde die üble Gewohnheit aufgegeben, und die geistigen Fähigkeiten verbesserten sich …“
Dr. E. S. Cooper war nicht der Einzige, der dieses Mittel gegen Masturbastion studierte und empfahl. Hunderttausende von Fällen dieser ursprünglich aus Europa importierten Methode hat die US-Medizingeschichte als eines ihrer unrühmlichen Kapitel verborgen. Hanny Lightfoot-Klein, Afrika-Abenteuererin, Rucksackforscherin der 70er-Jahre, die schon afrikanische Frauen zur Beschneidung befragte, als es Terres des femmes noch nicht gab, hat sie wieder ausgegraben: „Der Beschneidungsskandal“ will das Ungleichgewicht austarieren, das westlicher Aufklärungsdünkel gerne in die Beschneidungsdebatte bringt. Das Entsetzen angesichts verstümmelter Genitalien ist selektiv, so ihre These: Intersex-Operationen oder Beschneidungen männlicher Babys sind akzeptiert, genitale Verstümmelungen von Frauen dagegen gelten als das absolut Grausame. Lightfoot-Klein relativiert die Debatte, ohne dem Relativismus zu verfallen: Grausamkeit kann nicht gegen Grausamkeit aufgerechnet werden. Die Literaturwissenschaftlerin und Sozialanthropologin Hanny Lightfoot-Klein ist nicht zufällig Expertin für Grausamkeit. 1938 flohen ihre Eltern mit ihr als kleinem Kind aus Hamburg in die USA: „Der Rest der Großfamilie ging den Schornstein hoch“, so die heute 76-Jährige. Die „Überlebensschuld“ habe sie ihr Leben lang begleitet. Mit 51 Jahren reist sie Mitte der 70er-Jahre auf eigene Faust nach Afrika und stößt dort auf das Thema Beschneidung: „Ich hatte endlich eine Lebensaufgabe gefunden, die mir groß genug schien, um damit meine Überlebensschuld abzutragen“, erklärte sie der taz vor zwei Jahren. Lightfoot-Klein bekam Zugang zu Krankenhäusern, lebte mit Familien in verschiedenen Gebieten Afrikas zusammen und forscht mittlerweile seit 25 Jahren über Psychologie und Geschichte der Beschneidung.
HEIDE OESTREICH
Hanny Lightfoot-Klein: „Der Beschneidungsskandal“. 190 Seiten, Orlanda Verlag, Berlin 2003, 15,50 €