Gori nach den russischen Angriffen: In der Geisterstadt
Tausende Einwohner sind nach russischen Bombenangriffen aus Gori geflohen. Nur im Zentrum trifft man noch auf Menschen mit der Hoffnung, etwas Hilfe abzubekommen.
GORI taz Langsam nähert sich der Hilfskonvoi auf dem Weg nach Gori dem Ort Igoeti, rund 40 Kilometer von der georgischen Hauptstadt Tiflis entfernt. Angeführt wird die Kolonne von einem weißen Jeep mit der Aufschrift "World Food Programm". Dahinter folgen zwei schwarze Mercedesse mit abgedunkelten Scheiben, die zur Sicherheit mit einem blauen Aufkleber der Europäischen Kommission gekennzeichnet sind, ein Wagen mit großen Lettern "TV" auf der Rückscheibe sowie ein Sattelschlepper, der mit Hilfsgütern beladen ist.
Eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats zum Konflikt im Kaukasus ist erneut ergebnislos geblieben. Das Gremium beriet am Dienstag über eine Resolution, die Russland zur Einhaltung der Waffenruhe und zum vollständigen Rückzug seiner Truppen auffordern sollte. Russland erklärte erwartungsgemäß, es werde der Resolution nicht zustimmen. Der russische UN-Botschafter Witali Tschurkin warf den Mitgliedern des Sicherheitrats Parteilichkeit vor. Der französische Resolutionsentwurf sei unangemessen. Der Aggressor werde als Opfer dargestellt, kritisierte Tschurkin. AP
Der Rückzug der russischen Truppen aus Georgien soll bis Freitag (22. August) beendet sein. Ausgenommen seien nur 500 Mann, die mit den vereinbarten zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen für die Bevölkerung betraut seien, teilten der russische Präsident Dmitri Medwedjew und der französische Präsident Nicolas Sarkozy am Dienstagabend in einer gemeinsamen Erklärung mit. DPA
Der Krieg hat nach offiziellen Angaben der beteiligten Seiten 1.771 Menschen das Leben gekostet. Die meisten von ihnen, 1.492, starben nach südossetischen Angaben beim Angriff der georgischen Truppen. Das teilte die Statistikbehörde des international nicht anerkannten Gebietes am Mittwoch nach Angaben der russischen Agentur Ria Nowosti in Zchinwali mit. Die georgische Regierung bezifferte die Zahl der getöteten Landsleute auf insgesamt 215. Dies seien 146 Soldaten und Polizisten sowie 69 Zivilisten. Insgesamt 1.469 Menschen seien bei den Kämpfen verletzt worden, gab der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im georgischen Parlament, Giwi Targamadse, am Mittwoch in Tiflis bekannt. Aufseiten der russischen Armee starben 64 Soldaten. Weitere 323 wurden nach Angaben des stellvertretenden Generalstabschefs Anatoli Nogowizyn vom Mittwoch bei dem Kampfeinsatz im Südkaukasus verletzt. DPA
Die russische Militärführung hat das Bekenntnis der Nato zu Georgien nach dem Blutvergießen im Südkaukasus scharf kritisiert. "Die Einrichtung einer ständigen Nato-Georgien-Kommission wird Tiflis zu einem weiteren Blitzkrieg in den Konfliktgebieten ermutigen", sagte Vizegeneralstabschef Anatoli Nogowizyn am Mittwoch auf einer Pressekonferenz in Moskau. Das Gremium war von den Außenministern der Nato-Staaten am Dienstag geschaffen worden.
Am Straßenrand steht ein Dutzend Fahrzeuge der georgischen Polizei. Deren Besitzer kauern in brütender Hitze gelangweilt auf dem Boden. Sie warten darauf, in das rund 20 Kilometer entfernte Gori weiterzufahren, aus dem nach den russischen Bombenangriffen am 8. August tausende Menschen geflohen sind. Plötzlich stoppt der Konvoi. Eine kleine Gruppe von Demonstranten mit georgischen Fahnen hat die Straße versperrt. Unter Applaus und "Georgien, Georgien!"-Rufen lässt sie die Fahrzeuge passieren.
Ein paar Kilometer weiter patrouillieren bereits russische Panzer und Militärfahrzeuge. Auch auf den Anhöhen, die sich zu beiden Seiten der Straße erheben, haben sich russische Panzer postiert. Am ersten russischen Kontrollpunkt wird der Konvoi problemlos durchgewunken, ebenso am zweiten.
In dem Dorf Natsreti stoppt der Konvoi erneut. Eine Gruppe wütender Männer stürzt auf den Jeep zu, einer schlägt gegen die Scheiben. Ein alter Mann hebt drohend seinen Stock. "In unserem Dorf stehen russische Panzer. Schon eine Woche haben wir kein Brot, aber es kommt keine Hilfe. Wir sterben hier vor Hunger", schreit er. Wieder kommen dem Konvoi russische Panzer entgegen. Am Straßenrand liegen zwei ausgebrannte georgische Militärfahrzeuge, die Marktstände dahinter sind verwaist und sehen aus, als sei hier seit Jahren nichts mehr verkauft worden. Auch am dritten russischen Kontrollpunkt werden die Fahrzeuge nach prüfenden Blicken und einem kurzen Wortwechsel mit dem Fahrer des Jeeps durchgewunken.
"Gori zwei Kilometer" zeigt ein Straßenschild an, und ein weiteres lädt zum Besuch des Stalin-Museums ein. Kurz vor der Einfahrt in die Stadt liegen Dutzende Reporterteams in Lauerstellung. Allem Anschein nach wird ihnen auch heute wieder der Zutritt zu Gori verwehrt. Am Vortag waren die Journalisten mit der fadenscheinigen Begründung abgewiesen worden, sie bräuchten eine russische Akkreditierung.
An der Stadtgrenze warten bereits die nächsten russischen Soldaten. Akribisch untersuchen sie den Kofferraum jedes einzelnen Fahrzeugs. Das Gleiche wiederholt sich rund 500 Meter weiter. Gori wirkt wie eine Geisterstadt, es ist kaum ein Mensch zu sehen. Nur ab und zu huschen eine alte Frau oder ein alter Mann über eine der Seitenstraßen. Der Weg ins Zentrum führt vorbei an einigen ausgebombten Wohnblocks. Die Wände der oberen Stockwerke sind schwarz, das Mauerwerk aufgerissen und anstelle der zerbrochenen Fenster sind jetzt nur noch große Löcher.
Auf dem Hauptplatz mit der Stadtverwaltung, in dessen Mitte sich eine riesige Stalinstatue erhebt, scheint das Leben wieder zurückgekehrt. Von allen Seiten laufen Menschen mit Plastiktüten und Taschen auf die Stadtverwaltung zu, in der Hoffnung, etwas von den Hilfslieferungen zu erhaschen. Ein junger Mann, Journalist in Gori, der seinen Namen nicht nennen möchte, weist auf ein Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite. "Das ist eine Schule. Die Russen haben die Computer mitgenommen und alles andere kaputt geschlagen. Das habe ich selbst gesehen", sagt er. Die Scheiben von zwei Banken seien eingeschlagen und das Inventar zerstört worden. Auch das gehe auf das Konto der Russen. "Gestern ist ein betrunkener russischer Soldat durch die Straßen gelaufen und hat die Leute mit seiner Waffe bedroht. Die Bilder haben wir an das georgische Fernsehen geschickt. Hier in der Stadt gibt es jetzt keine georgische Polizei, die das verhindern kann", sagt er. Eine alte Frau in einem abgetragenen Kleid geht schüchtern auf die Fahrzeuge des Hilfskonvois zu. "Ich brauche so dringend Lebensmittel. Hier gibt es nichts, die Geschäfte sind zu", sagt sie. Ohnehin könne sie jetzt nichts kaufen, da sie kein Geld habe. Sie habe bis vor Kurzem Wurst auf dem Markt verkauft, aber auch der sei jetzt geschlossen. "Vor den Russen habe ich keine Angst", fügt sie hinzu, "aber vor den Kosaken. Die haben hier vor fünf Tagen eine Frau auf der Straße umgebracht." Eine andere Frau, die zugehört hat und versucht, sich mit einer Zeitung gegen die Sonne zu schützen, fängt an zu weinen. "Wir sind Waisen und so müde vom Krieg. Wir wollen doch einfach nur mit allen friedlich leben", sagt sie mit kaum hörbarer Stimme. Auch eine dritte möchte, wenngleich zögerlich, ihre Meinung noch mitteilen. Nein, über die Russen könne sie nichts Schlechtes sagen, die sorgten in Gori für Disziplin und Ordnung.
Der Hilfskonvoi verlässt Gori in Richtung Süden. Die Fahrt führt in das rund 30 Kilometer entfernte Dorf Bobnevi mit 60 Einwohnern im Ateni-Tal. Rund 300 Flüchtlinge aus Gori haben hier vorübergehend Unterschlupf gefunden. Auf den serpentinenartigen Straßen, die bisweilen in Schotterpisten übergehen und sich durch malerische Gebirgslandschaften schlängeln, kommen die Fahrzeuge nur langsam voran. Kurz nachdem das Ziel erreicht ist, belagern schon Dutzende erwartungsvolle Flüchtlinge den Transport. Eine junge Frau in einem geblümten Kleid, die eine Kette mit einem Kreuz trägt, beobachtet skeptisch das Geschehen. "Wir sind schon über eine Woche hier und haben nur einmal Brot bekommen. Das ist die erste Hilfslieferung", sagt Natalja Tenadse. "1989 sind wir aus Südossetien, aus Zchinwali, geflohen und nach Gori gekommen, und jetzt fängt alles wieder von vorne an", erzählt sie und kann die Tränen kaum zurückhalten. Vor zwei Tagen sei sie kurz nach Gori gefahren, aber sie traue sich nicht, mit ihrer Familie dorthin zurückzukehren. "Die Russen sind unberechenbar, und ich muss an meine Kinder denken." Und überhaupt: "Moskau ist an allem schuld und der Führer der südossetischen Separatisten, Eduard Kokojty. Der hilft Putin. Die Russen wollen Georgien zurück, doch das hier ist unsere Erde."
Auch für Tsira Berischvili aus Gori, die sich jetzt mit mit drei weiteren Angehörigen ein kleines Zimmer teilt, ist das nicht die erste Flüchtlingserfahrung. Von 1995 bis 1998 lebte die dunkelhaarige Frau, die ebenfalls ein Kreuz trägt und Lehrerin für georgische Sprache und Literatur ist, mit ihrer Familie als Flüchtling in Deutschland. "Wir wollen keinen Krieg, sondern nur arbeiten und unsere Kinder erziehen", sagt sie. "Wir wollen nicht, dass unsere Söhne getötet werden. Das hier ist eine Annexion und keine Friedensoperation."
Ihr 28-jähriger Sohn Georgi hat zwei Tage im südossetischen Znauri gekämpft. "Natürlich hatte ich Angst, aber wir hatten den Befehl, das Vaterland zu verteidigen", sagt Georgi. Als nach zwei Tagen die ersten Bomben gefallen seien, seien er und seine Kameraden abgezogen worden. "Dem", sagt Georgi, "hatten wir mit unseren Waffen nichts mehr entgegenzusetzen". Mittlerweile ist der Sattelschlepper entladen und sein Inhalt an die Menschen verteilt. Einige sind sichtlich enttäuscht, bringen dann aber doch die Säcke mit Mehl und Kartons mit Keksen in ihre Behausungen.
Auf dem Rückweg fährt der Konvoi erneut durch Gori. Es ist später Nachmittag, und die Sonne brennt immer noch erbarmungslos auf die staubigen Straßen. Vor einem Gebäude unweit des Hauptplatzes hat sich eine Menschenmenge versammelt. Einige brüllen, andere randalieren und schlagen wütend gegen Türen und Fenster. Hier werden Lebensmittel ausgegeben, doch scheinen einige der Wartenden leer auszugehen.
Ein Mann präsentiert erleichtert seine Beute: eine Flasche Sonnenblumenöl, ein Stück Käse, eine Fleischwurst und Erbsen. Die Produkte sind in russischer Sprache beschriftet. Eine alte Frau steht etwas abseits, in den Händen eine leere Plastiktüte. "Ich werde wieder nichts bekommen, ich habe Herzprobleme und nicht mehr die Kraft, mich da durchzukämpfen", sagt sie und blickt zu Boden. Wann, glaubt sie, werden die Russen abrücken? Sie zuckt mit den Schultern. "Ich fürchte, nicht so bald."
Am Dienstagabend hat Russlands Präsident Dmitri Medwedjew angekündigt, dass der Abzug der russischen Truppen bis spätestens kommenden Freitag beendet sein soll.
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