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Gorbatschow kritisiert Stalin

■ Der sowjetische Parteichef appelliert an die Bevölkerung, die „Errungenschaften“ von 70 Jahren Sozialismus zu wahren / Zugleich Kritik an den Verfolgungen des „Vaters der Völker“ geübt

Moskau (afp) - Der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow hat an die Bevölkerung appelliert, die „Errungenschaften“ von 70 Jahren Sozialismus in der Sowjetunion zu wahren, zugleich jedoch erstmals explizit Kritik an den Verfolgungen der Stalin–Ära geübt. In einer am Mittwoch von fast allen sowjetischen Tageszeitungen veröffentlichten Rede vor Journalisten forderte der Kreml– Chef seine Landsleute auf, über den „Nachteilen“, die das Volk seit der Oktoberrevolution 1917 habe in Kauf nehmen müssen, nicht die „enormen Errungenschaften“ zu vergessen. Der von ihm eingeleitete Reformprozeß werde gewißlich nicht zu einer „Negation“ der sowjetischen Geschichte führen, versicherte Gorbatschow. Manch einer frage sich, „ob die derzeitige Politik nicht das von früheren Generationen Erreichte unterbewertet“. Vor allem die sowjetischen Journalisten und Schriftsteller müßten jedoch „ihre Gefühle und Leidenschaften“ überwinden. Erstmals kritisierte Gorbatschow offen die Verfolgungen der Stalin–Ära. Das sowjetische Volk dürfe die Verfolgungen der Jahre 1937 und 1938 „niemals entschuldigen oder rechtfertigen“, von denen vor allem „die Parteikader, die Intelligenz und die Armee“ betroffen gewesen seien, sagte er, allerdings ohne Stalin namentlich zu erwähnen. Nach westlichen Schätzungen fielen den „Säuberungsaktionen“ dieser Jahre rund drei Millionen Menschen zum Opfer, von denen eine Million hingerichtet wurden und weitere zwei Millionen in den Gefängnissen und Straflagern auf andere Weise umgekommen sind.

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