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■ Goodbye Boris: Russlands zurückgetretener Präsident Jelzin war ein Extremfall, der ein Imperium zum Einstürzen brachte. Seine beste Zeit hatte er 1991 hinter sich. Ein RückblickDer Dickkopf lässt los –

Während die lange Agonie seiner Macht, seine Krankheit und die Korruptheit seiner Getreuen dem Ausland quälend vor Augen standen, blieb der politische Aufstieg von Boris Nikolajewitsch Jelzin (68) dem Westen weitgehend ein Rätsel. 1989, während der ersten halbwegs freien Parlamentswahlen in der UdSSR, war Jelzin für eine Mehrheit der Russen und Russinnen zur eigentlichen Lichtgestalt geworden.

Viele bangten damals um sein Leben. Diese Sorge hatte schon im November 1987 begonnen, als der Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, ihn unter demütigenden Umständen als Moskauer Parteichef absetzte. Während des Wahlkampfes 1989 bildete sich dann die „Moskauer Wählerorganisation“. Diese bescheidene Volksbewegung vollzog in der Sowjetunion fast ohne technische Hilfsmittel eine moderne Revolution. Ihr Ziel: Jelzin ins Parlament zu befördern.

Am entscheidenden Wahlmorgen, dem 26. März 1989, war die Autorin dieser Zeilen bei den Jelzins zum Frühstück eingeladen. Die für russische Verhältnisse sehr geräumige Wohnung in der Twerskaja-Jamskaja-Straße war schlicht eingerichtet. In der Küche tischte die Frau des Hauses Spiegeleier, Haferflocken und Quark auf. Naina Jossifowna und die beiden Töchter Tatjana und Lena versprühten Fünkchen mit ihren humorvollen Augen. Die heute als graue Eminenz der Kreml-Familie gefürchtete Tatjana arbeitete damals als Mathematikerin und las in ihrer Freizeit die neuesten literarischen Journale. Nüchtern schätzten sie und ihre Mutter die politische Lage ein. Sie äußerten sich fast ausgiebiger als der Vater, der sich ohne Berater hilflos zu fühlen schien.

Und doch hatte Jelzin damals, isoliert, jeglicher Macht enthoben und von den Medien abgeschnitten, so etwas wie eine eigene politische Plattform entwickelt. Immer wieder griff er die Privilegien der Parteibonzen an. Außerdem forderte er freie und geheime Wahlen und schloss – im Gegensatz zu Gorbatschow – ein Mehrparteiensystem nicht aus. 89,4 Prozent der Moskauer wählten ihn schließlich ins Parlament. Jelzin verkörperte die Sehnsucht seiner Landsleute nach sozialer Gerechtigkeit und Menschenwürde.

Gorbatschows Politik diente letztlich der Erhaltung und Erweiterung der Macht einer einflussreichen Fraktion unter den Herrschenden; einen Systemwandel gedachte man nur im Extremfall in Kauf zu nehmen. Dieser Extremfall hieß Jelzin. Sein Unvermögen, eine Niederlage einzustecken, wurde damals zu seiner Stärke. Seine Weigerung, zu kuschen, machte den Menschen Mut und brachte ein ganzes Imperium zum Einsturz. Eigentlich war Jelzin nur mit seinem Dickkopf gegen die Wand gerannt. Aber die Wand gab plötzlich nach.

Dickköpfigkeit und eine gewisse oppositionelle Einstellung gehören zum Familienerbe der Jelzins. In der Nähe des Uraldorfes Butka, in dem der spätere Präsident Russlands 1931 geboren wurde, gehörten die Jelzins auf Grund ihres Fleißes zu den reichsten Bauern. Noch heute erinnern sich die dort verbliebenen Kusinen mit Tränen in den Augen, wie Jelzins Großvater Ignat in der Stalin-Ära mit Schimpf und Schande als „Kulak“, als Bauernkapitalist, aus dem Dorf und in die Verbannung getrieben wurde. Nach dem Umzug nach Swerdlowsk (heute Jekatarinenburg) lebte die Familie in bitterer Armut in einer Baracke.

Geradezu verbohrt verfolgte der älteste Sohn seine Karriere, bis er 1975 Erster Sekretär des Gebietsparteikomitees von Swerdlowsk wurde. Bevor er 1955 sein Bauingenieurstudium abschloss, übte er ein Jahr lang jeden Monat einen andern Spezialberuf aus, damit man ihm später als Bauleiter „nichts vormachen“ könne. Nichts vormachen ließ er sich auch als Parteichef. In Swerdlowsk und dann in Moskau kontrollierte er Lebensmittelgeschäfte und fuhr inkognito Straßenbahn.

Ein Jahr nach seinem Aufstieg zum Vorsitzenden der Russischen Föderativen Sowjetrepublik wählte ihn 1991 eine große Mehrheit seiner Landsleute zu ihrem Präsidenten. Im selben Jahr – während des Augustputsches – verteidigte er vom Panzer herab die Entscheidung seiner Mitbürger für ein demokratisches Russland. Am Ende desselben Jahres bürgte er mit seinem Namen für äußerst radikale wirtschaftliche Reformen. Schließlich verabschiedete er gemeinsam mit den Regierungschefs Belorusslands und der Ukraine die Sowjetunion in die Geschichte.

Den Demokratisierungsprozess seines eigenen Landes allerdings vermochte Jelzin danach nicht mehr zu beschleunigen. Seinen kurzfristig errungenen Sieg festigte er mit Hilfe derselben politischen Kräfte, die bereits Gorbatschows Perestroika initiiert hatten. Sein Unvermögen, sich mit einem widerborstigen Parlament zu arrangieren, führte zur Zuspitzung des Konfliktes. 1993 ließ er das Weiße Haus aus Panzern beschießen und entwertete damit in den Augen seiner Landsleute das Symbol des eigenen Freiheitskampfes. Obwohl er im Herbst 1995 einen Herzinfarkt erlitten hatte, führte er seinen Wahlkampf so intensiv, dass er zwei weitere Infarkte provozierte.

Kaum wiedergewählt, verschwand er 1996 für Monate aus der Öffentlichkeit und ließ das Land führungslos. Von diesem Schlag haben weder er noch Russland sich je erholt.

Barbara Kerneck, Moskau

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