Goldgräberstimmung in Tanger: Eine neue Costa del Sol
Dort, wo Literaten wie William S. Burroughs, Jane oder Paul Bowles Haschischmarmelade verspeisten, dreht nun das internationale Immobilien-Jetset am Rad.
"Viele Businessleute im Flugzeug", sagt Katharina Franck, als ich sie am Flughafen von Tanger abhole. "Immobilienmakler aus Europa und sogar Asien, die sich andauernd über Grundstückspreise unterhalten", erklärt die Ex-Rainbirds-Sängerin, die für ein Solo-Konzert in die marokkanische Hafenstadt gekommen war. "Ich konnte es beinahe nicht mehr anhören."
Auf dem Weg in die Stadt passieren wir die Baustelle einer neuen Trabantenstadt, danach mehrstöckige Wohnhäuser im Rohbau, Bürotürme und Wohnkomplexe, die alle, wie es auf großen Plakaten heißt, "outstanding" und "deluxe" sind. Der Musikerin aus Berlin wird nun klar, was die Geschäftsleute in der Linienmaschine aus Madrid so eifrig zu bereden hatten. In Tanger ist die Goldgräberstimmung ausgebrochen, nachdem König Mohammed VI. beschlossen hat, die Hafenstadt zum neuen wirtschaftlichen und touristischen Zentrum Marokkos zu machen. Innerhalb der letzten drei Jahre stiegen die Immobilienpreise bis zu 300 Prozent.
Schließlich soll an der Nordspitze Afrikas eine neue Costa del Sol entstehen. Dazu baut man Luxushotels, exklusive Villenviertel mit Swimmingpools, Yachthäfen und Golfplätzen. Das Stadtzentrum Tanger wird komplett renoviert, am Mittelmeer entsteht der neue Megahafen TangerMed, dem ein 500 Quadratkilometer großes Industriegebiet angegliedert ist und wo 140.000 Arbeitsplätze entstehen sollen. Gleich in der Nähe will man zwei völlig neue Städte aus dem Boden stampfen. Gigantomanie, wie man sie sonst nur aus Dubai oder China, den Ländern der unbegrenzten architektonischen Möglichkeiten, kennt.
Der 1999 verstorbene König Hasan II. hatte, im Gegensatz zu seinem Sohn Mohammed VI., für Tanger wenig übrig. In seiner 37-jährigen Regentschaft besuchte er die Stadt nur ein einziges Mal. Trotz ihrer geopolitischen Lage an der Meerenge von Gibraltar, als Tor zu Afrika und Brücke zu Europa, ließ er die "weiße Stadt" administrativ und finanziell vernachlässigen. Die prachtvolle Architektur des Kolonialismus und der Charme der traditionellen marokkanischen Bauten bröckelte buchstäblich Tag für Tag ein Stück mehr ab. Die einzigen einträglichen Besucher waren Tagestouristen aus Spanien mit kurzen Hosen, Hut und Turnschuhen, die die 14 Kilometer überquerten, die Europa und Afrika trennen. Der Hafen von Tanger blieb Durchgangsstation für Lkw-Transporte von und nach Afrika. Verschifft wurden Textilien, modische billige Massenware, nach Europa. Ein verschwindend geringes Handelsaufkommen, vergleicht man es mit den neuen Planungen.
Die Stadt war damals eher ein trostloser Ort, mit heruntergekommenen Häuserfassaden. Die Hafenstadt lebte nur noch vom verblichenen Mythos alter Tage.
William S. Burroughs sagte einmal in einem Interview über Tanger: "Was für ein merkwürdiger Ort." Der amerikanische Autor hatte vier Jahre dort verbracht, während der "goldenen Zeit" von Tanger. Damals, in den 50er Jahren, war die marokkanische Hafenstadt noch Internationale Zone, ein Eldorado von Millionären, Schmugglern und Geheimagenten, wo jeden Tag in den Villen der Hautevolee ausschweifende Partys gefeiert wurden. Ein kosmopolitischer Ort der Dekadenz und Kreativität, wie man heute sagt.
William S. Burroughs saß meist allein in seinem Hotelzimmer unter dem Einfluss von Heroin oder Haschischmarmelade. Das Resultat war der Roman "Naked Lunch", von dem er sagte, er wisse gar nicht, wie er zustande gekommen sei. Heute ist das Buch ein Klassiker der modernen amerikanischen Literaturgeschichte. Burroughs war nicht der einzige Künstler, den es in dieser Periode nach Tanger zog. Die Liste bekannter Autoren, Maler und Musiker ist lang: Tennessee Williams, Truman Capote, Francis Bacon, Samuel Beckett, Jean Genet, Roland Barthes und nicht zu vergessen Paul Bowles, der bereits in den 40er Jahren nach Tanger gezogen war und den sein Marokko-Roman, "Himmel über der Wüste", international bekannt machte.
Nach der Unabhängigkeit Marokkos 1956 ging es mit der "Libertinage" in den Kulissen orientalischer Exotik schnell zu Ende.
Eine kleine Renaissance alter Tage gab es in den 70er-Jahren, als die "Hippies" in Scharen anreisten. Sie hatten "Das Nackte Brot", die Autobiografie Mohammed Choukris, und die "Haschisch-Erzählungen" Mohammed Mrabets gelesen. Beide Bücher übersetzte Paul Bowles ins Englische. Die Verfilmung seines Romans "Himmel über der Wüste" von Bernardo Bertolucci zog in den 80er-Jahren noch einmal einen Schwung neugieriger Westler an. Danach verwaiste die "weiße Stadt" zusehends zur kulturellen und politischen Bedeutungslosigkeit. Ein Ort, an dem die Zeit stehen geblieben zu sein schien, in der nichts Wirkliches passierte, außer indischen Filmen im Kino oder die WM im Fernsehen. Eine Patina des Vergessens über der ganzen Stadt, die sie so sympathisch für einige verirrte Künstler machte, die sich schon am frühen Morgen in der Negresco-Bar oder im Restaurant Ritz mit Mohammed Choukri und anderen Exzentrikern hemmungslos besoffen.
Wer heute jedoch nach 45-minütiger Fahrt mit dem Fähre in Tanger ankommt, den erwartet das neue Tanger. Die so lange vergammelten Fassaden der Avenida Espana am Hafen glänzen in weißem Glanz, in einer angelegten Fußgängerzone kann man fern von Autoabgasen im Café sitzen und den Blick aufs Meer genießen. An der Strandpromenade riss man alle illegalen Gebäude ab, die den Blick auf die See und Spanien verstellten. Bald werden auch die Kräne der Hafenanlagen verschwunden sein. 2009 soll aus dem alten Hafen eine Vergnügungsmeile mit Restaurants, Clubs und Sportmöglichkeiten werden. Der ganze Warenverkehr wird über den neuen TangerMed-Hafen abgewickelt.
"Der öffentliche Raum wird Stück für Stück zurückgewonnen", erklärt Khalid Amine, Professor an der Universität Tetouan. "Orte, die vorher nicht zugänglich waren, werden nun zu öffentlichen Parks. Straßen, sonst Autos vorbehalten, sind nun Fußgängerzonen." Seiner Meinung nach zeigten alle Veränderungen, dass die Stadt ihren internationalen Status zurückfordere. "Tanger hat das Talent, sich immer wieder neu zu erschaffen, nun ist es das Tor zur Modernität." Der alte Mythos habe ausgedient und es sei Zeit für einen neuen. "Wie früher werden das die Künstler besorgen", behauptet Khalid Amine, der auch Organisator der jedes Jahr stattfindenden Internationalen Tanger-Konferenz ist. "Denn die Künstler sind letztlich diejenigen, die Mythen schaffen."
Bis es so weit ist, wird allerdings noch viel Zeit vergehen. "Mythen benötigen zeitliche Distanz, bevor sie kreiert werden", betont Khalid Amine. Das goldene Zeitalter Tangers sei das beste Beispiel dafür. Von der Nähe betrachtet, sei es alles andere als gülden gewesen. "Es bedurfte schon einiger Jahrzehnte, bis daraus wurde, was es heute ist." Damals durften Marokkaner (ohne westliche Begleitung) kein Café, Restaurant oder Hotel betreten, außer durch die Hintertür, um in der Küche oder als Putzfrau zu arbeiten. Mit einem westlichen Pass in der Tasche konnte man dagegen nackt durch die Straßen laufen oder einen Marokkaner erschießen, ohne dafür behelligt zu werden. "Wer keinen der wenigen Jobs bekam", so erzählte der 2003 verstorbene Autor Mohammed Choukri, "konnte in den Mülltonnen sein Frühstück oder Mittagessen suchen." Damals hätten die ausländischen Künstler, abgesehen von wenigen Ausnahmen, nicht das geringste Interesse an der Kultur des Landes gehabt. "Sie kamen, um das moderne Leben der Stadt zu genießen, auf schicke Partys und ins Spielcasino zu gehen, billigen Sex oder Drogen zu genießen."
Bei den Worten Mohammed Choukris fühlt man sich an die Gegenwart erinnert. In den letzten drei Jahren ließen sich wieder vermehrt Europäer in Tanger nieder. Sie kaufen alte marokkanische Häuser zu jedem Preis, Meerblick vorausgesetzt. Man schätzt das exotische Ambiente, wobei den indigenen Einwohnern nur der Status als Diener oder als willige wie billige Sexualpartner zukommt.
Neue Clubs, Bars und Restaurants sind entstanden, mit Preisen, die sich an der neuen europäischen Klientel orientieren. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann Geschäfte und Boutiquen folgen, die Designerwaren und teure Markenuhren verkaufen.
"Eine normale Entwicklung", befindet Professor Khalid Amine. "So etwas gibt es in der ganzen Welt. Warum sollte Tanger da anders sein?"
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