: Glückspolicen gibt’s nie
Der in Zürich lebende Michael Hagner, an der dortigen Eidgenössisch-Technichen Hochschule Professor für Wissenschaftsforschung, hat in mehreren, sehr gut les- wie verstehbaren Büchern die Geschichten des menschlichen Bildes vom Gehirn und der Interpretation seiner Tätigkeit untersucht. Als Taschenbuch ist mittlerweile „Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung“ (dtv, München 2007, 374 Seiten, 19 Euro) erschienen; in „Homo cerebralis: Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn“ (Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008, 382 Seiten, 14 Euro) zeichnet er die im Grunde mit erst 200 Jahren noch vergleichsweise junge Forschung zur Tätigkeit (und Bedeutung) des Gehirns für den Menschen nach.
Immer wieder zu empfehlen ist die Lektüre des Materials von Medizinnobelpreisträger Eric Kandel: „Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes“ (Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007, 341 Seiten, 12 Euro). Sein Befund: Die Gehirntätigkeit an und für sich erklärt zunächst gar nichts – das Psychische (also jenes Bündel von Wahrnehmungen und Fantasien, das Menschen ermöglicht, sich ein Bild von der Wirklichkeit zu entwerfen) ist das, was an der Arbeit des Gehirns von Interesse ist. Eric Kandel war auch derjenige, der herausfand, dass das Gehirn keineswegs ein rein statisch operierendes Organ ist, sondern dass es sich vielmehr im Laufe eines Lebens im Rahmen der (zwingend für seine weitere Entwicklung notwendigen) Kommunikation mit all ihren Herausforderungen entwickelt.
Für die Diskussion über den freien Willen – inklusive der Frage, ob es überhaupt einen gibt – empfiehlt sich für den ersten Überblick ein durchaus die Gehirntätigkeit sehr anregender Blick unter dem Stichwort Freier Wille ins Netz-Volkslexikon: www.wikipedia.org. JAF
Freier Wille, Fremdbestimmung, die Moden und der Zwang zur Dauerbereitschaft – Eigensinn hat immer weniger Raum
VON JAN FEDDERSEN
Allein die Debatte hat etwas Absurdes. Es gebe keinen freien Willen; der Mensch entscheide gar nichts selbst, vielmehr sei er angetrieben von körpereigenen Voraussetzungen, solchen, die im Gehirn beheimatet sind. Recht eigentlich, so meinen Neurobiologen und -mediziner, könne man bei einem Menschen weder von einem ihm zugehörigen Selbst noch von einem Ich sprechen, denn alles Tun oder Nichttun in der ersten Person Singular sei ihm nicht bewusst. Er werde gesteuert durch etwas, was zwar in ihm liege, aber nicht kontrollierbar sei, vor allem nicht durch Entscheidungen im Sinne eines freien Willens.
Aber stimmt das überhaupt? Denken nicht die meisten Menschen, sie verfügten über Spielräume des Handelns und Denkens? Kann die These vom neurobiologisch nachweisbar nicht vorhandenen freien Willen logisch Sinn stiften? Und wenn ja – na und?
Man kann es nämlich auch so sehen wie der Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma. In einem Beitrag für den Mittelweg schrieb er, selbst wenn ein freier Wille nicht existierte und alles, was ein Mensch für seinen Entscheidungsspielraum hält, nur dessen Fantasie entsprungen wäre, wäre es im Sinne einer gesellschaftlichen Ordnung, also der Zivilisiertheit alltäglichen Umgangs miteinander, klug, sich nicht von der Idee des freien Willens zu verabschieden.
Sonst nämlich könne ein jeder Straftäter sich auf diesen – ihm ja unbekannten – Grund für sein Delikt herausreden: dass nicht er (oder sie) das Delikt beging, sondern eine unbekannte Kraft, die eben nicht dem freien Willen entsprungen ist. Der Mensch: in Fesseln, machtlos trotz anderer Einbildungen? Das käme einer Nobilitierung der Haltung gleich, bloß keine Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen: Ich war es nicht, mein eigentliches, wenngleich mir unzugängliches Selbst hat es getan. Es braucht gar nicht zwingend Reemtsmas Pragmatismus, um zu erkennen, dass die Naturwissenschaft die allumfassende Erkenntnis in dieser Frage nicht alleine gepachtet hat. Denn alle Arbeit von Neurobiologen und Neuromedizinern dreht sich um lediglich einen einzigen Punkt: herauszufinden, wie sich menschliche Tätigkeit (oder eben Nichttätigkeit) im Gehirn spiegelt – und ob der Mensch in seinem ihm selbst bewussten Empfinden diesen gerecht wird.
Man möchte also wissen, ob im Gehirn (nicht: im Psychischen) irgendwo eine geheimnisvolle Kraft am Wirken ist, die man bisher nicht entziffern konnte. Man recherchiert in Gehirnarealen nach dem, was man als Fantasie bezeichnet, nach der Neigung zu Mord, zu einer bestimmten Sexualität, zu Depression oder zur Lust am Karneval oder nach Gründen, warum jemand morgens Kaffee oder weißen Tee bevorzugt. Der Optimismus von WissenschaftlerInnen der neurobiologischen Szene macht glauben, dass eines Tages der Mensch sich von seiner Subjektivität verabschieden darf, weil sie nur eine Schimäre ist, nur ein Ausdruck eines ganz bestimmten – nicht ungefähren – Schaltplans vom Leben.
Das müsste zu denken geben. Denn diese Art der Gehirnforschung steht ganz in der Tradition einer Körperwissenschaft, die Individualität, selbst entworfene wie selbst erarbeitete zumal, nicht zur Kenntnis nimmt; ein neurobiologischer Ansatz, der den Menschen unter den Scan nehmen zu können glaubt wie einen Roboter.
Eine Körperwissenschaft als Teil der Ingenieurskunst wäre dies – ein Schrauben an Apparaten. Gedankliche Ansätze, die bereits in der neuromedizinischen Wissenschaft des vorigen Jahrhunderts populär waren. Damals hieß es, beispielsweise, die Neigung zum Ehebruch ließe sich gehirnchirurgisch beheben, auch emanzipatorische Anwandlungen von Frauen, die kein Heimchen am Herd sein wollten. Ein Schnitt sollte helfen. Die Psychiatrie war (und ist teilweise noch) ein medizinisch offenes Feld von Ideologie – Lust an Sexualität sah sie als Krankheit (Homosexualität, klassisch), Renitenz und Oppositionsvermögen als Dysfunktion des Seelischen, Armut als Zeichen von psychischer Indisponibilität: alles operabel.
Wenn diese – durch allerlei bunte Bilder aus allen möglichen Gehirnschichten – scheinbelegte Unfreiheit des menschlichen Willens einem obskur vorkommen mag, bleibt eine Frage offen: Warum handeln Menschen so, als verfügten sie nicht über einen freien Willen? Warum zum Beispiel nimmt die Neigung zu, sich einer Schönheitsoperation zu unterziehen? Warum wollen – darauf spielt „Schön normal“, Titel eines erhellenden Kompendiums über „Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst“ (Transcript 2008), an – mehr Menschen denn je sich körperlich korrigieren lassen? Nasen, Ohren, Antlitze in Gänze, Hände, Bäuche, Beine, Genitalien? Simpel gesagt: Weil der medizinische Markt es möglich macht. Aber weshalb hat die Ware Schönheit Konjunktur? Woher rührt der Drang, sich wenigstens zum äußeren Schein ebenmäßig umschnippeln zu lassen – also der Wunsch, so auszusehen wie alle anderen? Was ist dran an der Sehnsucht nach Makellosigkeit?
Was aber ist ein Makel? Aus welchen Gründen geht niemand zum Schönheitschirurgen und wünscht sich Segelohren, die Nase ein wenig höckrig, die Lippen schmaler? Ist das schon Freiheit, sich für die Konfektion zu entscheiden – oder wirkt als gesellschaftliches Rauschen eine Kraft, die ständig murmelt: „Sei nicht eigen, tilge an dir Macken!“? Es ist allein die Möglichkeit, sich operieren zu lassen. Doch wo ist die Trennlinie zwischen medizinisch und psychisch Notwendigem? Ist eine Operation an einer für entstellend gehaltenen Narbe akzeptabel? Und wenn ja, warum dann nicht auch der Wunsch einer Frau nach Brustvergrößerung?
Eine Fettabsaugung kann ebenso der seelischen Gesundheit dienen wie eine Narbentilgung, die medizinisch nicht notwendig ist. Wahr ist aber: Sie ist möglich, und zwar für immer mehr Menschen. Und hier kommt wieder die Freiheit ins Spiel. Galt früher ein Buckel, ein Spaltgaumen oder die Neigung zur Korpulenz als Schicksal, als Teil der göttlichen Idee, so gilt heute alles, was von der Norm – die natürlich eingeschrieben wird – abweicht, als Anlass, zutiefst beunruhigt zu sein.
Wer also, ließe sich schlussfolgern, die Freiheit hat, zu wählen, sucht sich die Konfektion aus, denn Nonkonformismus ist erfahrungsgemäß nicht die erste Haltung, die Menschen an sich selbst gern pflegen. Man will normal sein, und keineswegs ein Außenseiter, man will besonders sein und gleichzeitig genau so wie die anderen.
Allein: Die Freiheit der Wahl zu haben macht Arbeit. Aus vierzig TV-Programmen das einem Gemäße zu filtern ist schwieriger als die Wahl zwischen ARD und ZDF wie Mitte der Sechzigerjahre; die Wahl zwischen Biolebensmitteln und konventionell produzierter Nahrung mag noch simpel sein – aber auch Tiefkühltruhen in Biomärkten führen fünf unterschiedliche Sorten von Pizza Calzone; im Mittelalter war man in der Kirche, ein Austritt aus ihr war meist nicht einmal denkbar.
Eva Illouz, eine israelische Soziologin, hat diese Veränderungen auch auf dem Beziehungsmarkt ausgemacht. „Gefühle im Zeitalter des Kapitalismus“ ist eines ihrer Bücher betitelt. Unfrei waren ihrer Ansicht nach Paarbeziehungen noch vor hundert Jahren allein deshalb, weil die Eltern die Paare zusammenbanden, aus dynastischen Erwägungen; dem Pöbel war weithin die Heirat nicht einmal erlaubt. Im Kapitalismus aber, jener Ökonomie- und Gesellschaftsform, die alles Traditionelle mürbe macht und jede Überlieferung nostalgisiert, kann jedeR sich jeneN aussuchen, den sie oder er möchte. Dass dieser Umstand der Freiheit die Möglichkeit von Irrtümern einschließt, könnte die überall gestiegene Zahl der Scheidungen mit erklären.
Wer die Wahl hat, kann scheitern. Und dieses Wissen um das Scheitern macht müde, zumindest bewirkt es, dass das Fühlen und Denken prekär wird. Nichts ist mehr sicher, alles steht dauernd zur Disposition; nichts scheint von Dauer. Und wenn etwas von Stetigkeit ist, könnte es am Ende doch bedroht sein.
Die Moderne aber, in der faktisch alles unter dem Diktat der Individualität zu stehen hat, kann nicht anders, als immer das Neue hervorzubringen, das Verheißungsvolle, das Neugier Stiftende.
Vielleicht ist der höchste Lohn der Freiheit, sich im Dschungel der Irrtümer, der fehlerhaften Wege, der missratenen Lebensabschnitte gut zurechtfinden zu können – und die günstigsten Schlüsse daraus gezogen zu haben. Freiheit, so gesehen, wäre die Fähigkeit, aus dem überbunten Angebot irgendwann mal das herausgepult zu haben, was einem irgendwie am besten tun könnte. Policen auf Ewigkeitsglück gibt es dennoch nicht; die Zeiten der fast automatischen Sicherheiten, in puncto Klassenlage, im Hinblick auf Beziehungsbelange, sind vorbei.
Was bliebe, wäre ein milder Blick auf das, was der freie Wille nicht ist: eine Hilfe auf dem Laufsteg zur Vollkommenheit. Diese wäre ein Resultat, das, aus der Sicht von Gläubigen, nur Göttliches hervorbringen kann, und zwar in eigener Sache, unbewusst, weil es so ist, nicht weil ein Göttliches sich qualifiziert hat. Doch anzunehmen, es gäbe keinen freien Willen, weil in neurobiologischen Apparaten eine Automatik säße, die alles regelt, ist antifreiheitlich. Es dient, den Forschern wie ihren Anhängern, als Lockmittel, indem es den Menschen einredet, sie könnten sich niemals irren – denn ein unfreier Wille ist gegen Irrtümer schon logischerweise gefeit. Er kann ja nichts dafür, für nichts.
JAN FEDDERSEN, Jahrgang 1957, ist taz.mag-Redakteur und lebt in Berlin. Er lehnt Kulturkritik zu üben meist strikt ab