■ Glosse: Schildbürgerstreiche
Türken sind die besseren Deutschen. Dank des Essener Zentrums für Türkeistudien dürfen dies nicht nur bramarbasierende Teehausbrüder behaupten. Unermüdlich brennt der Braintrust um Geschäftsführer Faruk Șen ein Zahlenfeuerwerk ab, das uns Altdeutschen Ehrfurcht und Respekt lehrt. In 66,9 Prozent aller deutschtürkischen Haushalte ist ein Pkw vorhanden, aber nur in 52,7 Prozent der teutonischen. 20,4 Prozent der Türken entscheiden sich dabei für einen Mercedes, bei den Deutschen nur 7,7 Prozent. Auch im Bereich Elektronik sind Türken deutlich besser. Und in 77,19 Prozent der türkischen Haushalte wird mindestens dreimal täglich das Geschirr gespült, während dies lediglich bei 10,7 Prozent der deutschen Haushalte der Fall ist!
Wer angesichts der Essener Fakten noch nicht davon überzeugt wurde, daß Türken einfach ein tolles und in vielen Bereichen auch ein außergewöhnliches Völkchen sind, da er, altmodisch wie er ist, nur den Statistiken glaubt, die er selbst gefälscht hat, der wird nun in Berlin eines Besseren belehrt. Auch auf unserem ureigenen Terrain, der Vereinsmeierei und Schildbürgerei, machen uns die Neubürger inzwischen etwas vor.
Seit zwei Monaten gibt es im Osten ein TIZ (ein Türkisches Informationszentrum). „Das Zusammenleben von Berlinern unterschiedlicher nationaler Herkunft gehört zum Alltag. Allerdings sind die Bewohner des ehemaligen Ostberlins mit der diesbezüglichen Entwicklung seit den 60er Jahren nicht sehr vertraut“, heißt es in einer Selbstdarstellung. Wer wollte da widersprechen? Und was lag deshalb näher, als im Herzen des Ostens, in der Friedrichstraße, ein TIZ zu eröffnen, um Defizite abzubauen.
Nur, wer darf im Namen der Türken die Defizite der Ostler beheben? Die nationalkonservative Türkische Gemeinde zu Berlin? Oder der Türkische Bund in Berlin-Brandenburg, eher der Sozialdemokratie zugeneigt? Nach Verhandlungen, die in ihrer Härte den Vergleich zu den Koalitionsverhandlungen zwischen Tansu Çiller und Mesut Yilmaz in Ankara nicht zu scheuen brauchten, einigten sich die Parteien. Das TIZ wird nun von beiden betrieben. Die Vereinbarung im Einzelnen: In den ungeraden Wochen des Jahres übernimmt der Türkische Bund die Informationshoheit im Osten, in den geraden Wochen die Türkische Gemeinde. Wieviel Zeit neben den unvermeintlichen Räumungsarbeiten für die eigentlichen Aufgaben bleibt, ist ungewiß. Denn jeweils zum Wochenende muß die eine Partei Schreibtische, Telefone, Plakatwände und Informationstafeln räumen, das Schild am Hauseingang, das darüber informiert, wer gerade die Räumlichkeiten beherrscht, muß abmontiert werden, damit der TIZ-Partner sich zum Wochenbeginn als der wahre Betreiber präsentieren kann.
In der Türkei ist das Berliner Modell, bis Ende des Jahres sollte Mesut Yilmaz, ab Januar 1997 dann Tansu Çiller regieren, bereits gescheitert. Mesut Yilmaz sei „ein Dreckskerl“ sagte Çiller laut zum Abschied aus der Minderheitenkoalition. In Berlin wandert lediglich Material des Bundes, so ist aus gut unterrichteten Kreisen zu hören, in den Papierkorb, wenn der Koalitionspartner das Zepter schwingt. Eberhard Seidel-Pielen
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