: Gleichgültigkeit als Methode
Murat Kurnaz wurde Opfer westlicher Militärs und Geheimdienste. Nun tut die Justiz ihre Pflicht, und die Medien berichten kritisch. Was fehlt? Die Empörung der Öffentlichkeit
Jede Zeit hat ihre Sprichwörter, und manchmal erleben Redewendungen, die jahrzehntelang veraltet zu sein schienen, eine unerwartete Renaissance. „Wo gehobelt wird, da fallen Späne.“ Die Überzeugung, für manche höheren Ziele müssten eben unliebsame Begleiterscheinungen hingenommen werden, ist eine brauchbare Zusammenfassung des geistigen Klimas in Deutschland. Das höhere Ziel: Sicherheit. Die unliebsamen Begleiterscheinungen: eine wachsende Bereitschaft zur Abschottung, zur Ausgrenzung von religiösen oder weltanschaulichen Minderheiten und zur Relativierung von Menschenrechten.
Gewiss, die demokratischen Institutionen funktionieren nach wie vor ziemlich gut. Gestern sagte Murat Kurnaz vor dem in einen Untersuchungsausschuss umgewandelten Verteidigungsausschuss aus, heute wird er vor dem BND-Ausschuss seine Aussage machen. Sein Fall ist in den Medien ausführlich thematisiert worden. Der aus Bremen stammende junge türkische Staatsbürger reiste Anfang Oktober 2001 nach Pakistan, um, wie er später erklärte, mehr über den Islam zu erfahren. Dort wurde er unter dem Verdacht terroristischer Aktivitäten festgenommen und dem US-Geheimdienst übergeben. Damit begann ein Leidensweg.
Kurnaz wurde zunächst nach Afghanistan und später ins Gefangenenlager Guantánamo gebracht. Dass er dort bis letztes Jahr einsaß, obwohl ihm keinerlei Straftaten nachgewiesen werden konnten, liegt nicht nur an den USA. Bereits 2002 gab es ein Angebot der Vereinigten Staaten, den Häftling nach Deutschland abzuschieben – aber dort war er unerwünscht. Obwohl Experten der deutschen Sicherheitsbehörden ihn für unschuldig hielten, wurde eine Einreisesperre gegen den Bremer verhängt.
Dieser Vorgang ist nicht der einzige Vorwurf, den Kurnaz erhebt: Er beschuldigt außerdem zwei Soldaten der Eliteeinheit KSK, ihn in Afghanistan misshandelt zu haben. Inzwischen ermittelt in dieser Angelegenheit die Staatsanwaltschaft.
Was will man mehr? Das Parlament befasst sich in zwei Untersuchungsausschüssen mit dem Fall. Die Justiz tut ihre Pflicht. Die Medien berichten und fordern Aufklärung. Was fehlt? Die Empörung der Öffentlichkeit.
Keine politische Eintagsfliege ohne Meinungsumfrage, kein Skandälchen ohne TED. Wenn ein Arbeitsloser einen Gesprächstermin beim Ministerpräsidenten seines Bundeslandes absagt, dann erregt das tagelang die Gemüter. Eine solche Diskussion kann es bis zur Spitzenmeldung in TV-Boulevardmagazinen bringen. Murat Kurnaz? Es ist fraglich, ob eine Mehrheit der Bevölkerung mit dem Namen überhaupt etwas anfangen kann.
Leserbriefe kommen selten zu dem Thema. Es hat Monate gedauert, bis die Frage nach der politischen Verantwortung des damaligen Kanzleramtsministers Frank-Walter Steinmeier auch nur gestellt wurde. Heute ist er Außenminister – und derzeit der populärste Politiker der Bundesrepublik. So wie einst sein Vorgänger Joschka Fischer, dessen Ansehen durch seine mögliche Verwicklung in den Fall Kurnaz bislang ebenfalls nicht beschädigt wurde.
Die Gleichgültigkeit hat Methode. Berichte, dass deutsche Beamte den deutsch-syrischen Islamisten Mohammed Haidar Zammar in einem syrischen Gefängnis verhört haben sollen, sind auf ähnlich geringes Interesse gestoßen. Auch alle Überlegungen, ob die damalige rot-grüne Bundesregierung eigentlich ihrer Fürsorgepflicht gegenüber dem von der CIA in Mazedonien verschleppten Deutschen Khaled al-Masri nachkam, wurden fast ausschließlich von Fachleuten angestellt.
Wer meint, der Grad des öffentlichen Mitgefühls lasse sich nur schwer messen, erinnere sich an Reaktionen auf Nachrichten über vernachlässigte Kinder, über Familien, die ihre Habe bei einem Wohnungsbrand verloren haben, oder über Tierquälerei. Um Missverständnisse zu vermeiden: Hier sollen nicht Äpfel mit Birnen verglichen werden. Die Beispiele sind lediglich in einer einzigen Hinsicht aufschlussreich. Sie widerlegen die Annahme, die Öffentlichkeit habe kaum eine andere Möglichkeit als eine Großdemonstration, um Interesse zu zeigen.
Es sagt viel über eine Gesellschaft aus, für welche Opfer sie Mitgefühl aufzubringen bereit ist. In Deutschland scheint es sich allmählich einzubürgern, dass nur noch diejenigen in den Genuss öffentlicher Anteilnahme kommen, die in Lebensstil, Überzeugungen und Herkunft zur breiten Mehrheit gehören. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns: Das gefährliche Freund-Feind-Denken, das US-Präsident George W. Bush propagiert, ist offenbar mittlerweile auch im kollektiven Bewusstsein der Bundesrepublik tief verankert.
Was für Einzelfälle gilt, findet seine Entsprechung in grundsätzlichen Fragen. Die Bereitschaft deutscher Behörden, von nachrichtendienstlichen Erkenntnissen totalitärer Staaten zu profitieren, wird von den Deutschen zustimmend zur Kenntnis genommen. Eine Mehrheit der Bevölkerung hält sogar „leichte Folter“ für eine angemessene Verhörmethode, wenn damit Menschenleben gerettet werden können.
Einer der KSK-Soldaten hat Murat Kurnaz in Afghanistan zugerufen, er habe wohl auf der falschen Seite gestanden. Eine bemerkenswerte Äußerung. Nicht um abstrakte Rechtsgrundsätze oder gar Moral scheint es noch zu gehen, sondern allein darum, wer „zu uns“ gehört. Und wer nicht. Die Haltung von Institutionen zu dieser Frage ist wichtig. Aber nicht allein entscheidend.
Parlamentarische Untersuchungsausschüsse sind in vielen Fällen besser als ihr Ruf. Sie fördern zwar häufig weniger neue, spektakuläre Erkenntnisse zutage als erhofft und ziehen auch keineswegs immer konkrete Konsequenzen nach sich. Aber das Augenmerk von Entscheidungsträgern und denjenigen, die sie zu beobachten haben – den Medien –, für bestimmte Probleme wird geschärft. Das mindert die Gefahr, dass bestimmte Missstände schleichend zur Normalität werden.
In dieser Hinsicht besteht durchaus Anlass zur Hoffnung. Wenigstens der Auswärtige Ausschuss und nicht nur der Verteidigungsausschuss werden jetzt über Aktivitäten der KSK informiert. Es ist möglich, dass die Befugnisse des Parlamentarischen Kontrollgremiums gestärkt werden, das die Geheimdienste überwacht. Das wäre auch bitter nötig. Es gab zahlreiche Meldungen, die in jüngster Zeit den bedrückenden Eindruck erweckten, manche Mitarbeiter von Sicherheitsbehörden glaubten, sie stünden über dem Gesetz.
Aber alle formalen Korrekturen werden nichts nutzen, solange die Öffentlichkeit sich nicht auf – jawohl: die Werte besinnt, die ein demokratisches Gemeinwesen definieren. Zu denen, neben anderen, die Toleranz gehört. Wenn die sogenannte wehrhafte Demokratie totalitäre Züge anzunehmen droht, dann ist sie keine mehr. Mit welchen Argumenten könnte man Murat Kurnaz derzeit überzeugend die Überlegenheit des westlichen Systems erklären? Freiwillige vor. BETTINA GAUS