Giftgas: „The light at the end of the tunnel“

Die ersten Giftgaszüge verließen am Mittwoch abend das US-Depot Miesau/ 10.000 Sicherheitskräfte im Einsatz/ Fahrt nach Nordenham „ohne Zwischenfälle“/ Für den Frankfurter Flughafen gab es kein Flugverbot während der Giftpassage  ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Miesau (taz) — John M. Curd ist Presseoffizier bei der US-Army und nach Brigadegeneral Dennis L. Benchoff ranghöchster US-Militär der Operation „Lindwurm“. Weil Benchoff in Nordenham weilte, durfte Curd bei der improvisierten Pressekonferenz des rheinland-pfälzischen Innenministers Rudi Geil (CDU) alleine den Part des „coolen“ Ledernacken spielen. Nur Minuten zuvor hatte der zweigeteilte und auf den Schienenstrang verlegte „Lindwurm“ das US-Depot Miesau verlassen — unter dem Blitzlichtgewitter der Fotografen und dem Surren der Fernsehkameras aus (fast) aller Welt.

Im schönsten Kaugummislang und lässig auf dem Stuhl hängend, sagte Curd, daß er „the light at the end of the tunnel“ gesehen habe. Noch eine Woche lang müsse die „host nation“ Bundesrepublik Deutschland mit den Chemiewaffen der US-Army leben — und dann endlich sei Westdeutschland völlig frei von „chemical wappons“. Der Südstaatler von der 59. US-Ordonanzbrigade lobte „the Bundesbahn“ als perfekt organisiertes Transportsystem und klopfte seinen „boys on the train“ und den anderen mutigen Burschen der Bundeswehr, der Bahnpolizei, der Schutzpolizei und des BGS verbal auf die Schultern: Alle Beteiligten hätten „ganze Arbeit“ geleistet. Und bislang habe es auch kein technisches Problem gegeben — weder bei den Transporten auf der Straße noch beim ersten Giftgastransport auf der Schiene.

Gut eine halbe Stunde vor Curds Auftritt auf dem Parkplatz der Firma Grundig in Miesau war der letzte der beiden Züge mit den in „Milvan“—Containern verpackten Giftgasgranaten aus dem Depot gerollt. Die Glieder der beiden giftigen „Lindwürmer“ bestanden aus je 20 Tiefladerwaggons mit insgesamt 80 Containern, vollgepackt mit gasgefüllten Haubitzengeschossen. Je zwei stromunabhängige Dieselloks der Bundesbahn bildeten den Kopf der „Lindwürmer“ — ihnen folgten Waggons mit Sicherheitspersonal aus den Reihen der US-Amerikaner, der Bundeswehr des BGS und der Bahnpolizei und ein eigens für den Giftgastransport konstruierter „Beobachtungswaggon“ mit panzerverglastem Ausguck. Auch der Gasspürpanzer „Fuchs“ der Bundeswehr durfte auf einem eigenen Waggon die Reise nach Nordenham mitmachen. Dem ersten Zug folgte am Mittwoch — im Abstand von zwanzig Minuten — der zweite Giftgastransport. Und dem wiederum wurde ein „Sicherheitszug“ mit weiteren „ausgebildeten Kräften“ und Dekontaminierungsgeräten nachgeschickt. Mit der angeordneten maximalen Spitzengeschwindigkeit von 90 km/h rollten die „Lindwürmer“ dann durch die Nacht nach Nordenham. Mit im Giftgaszug saß der Staatssekretär im hessischen Innenministerium, Reinhold Stanitzek (CDU), der — nach Angaben seiner Pressestelle — „wohlauf und ausgeruht“ im nordhessischen Kassel wieder aus dem Zug stieg. Stanitzek: „Endlich habe ich Zeit gefunden, ein Buch zu lesen.“ In der Nacht zum Donnerstag fuhren die „Lindwürmer“ übrigens die Strecke „Rot“: Von Miesau über Darmstadt, Groß- Gerau, Aschaffenburg, Hanau, Gießen und Kassel nach Niedersachsen. Entlang der Strecke waren die Bahnübergänge für gut eine Stunde geschlossen, und rund 10.000 Einsatzkräfte sorgten für „umfassende Sicherheit“ auf Brücken, in Unterführungen und an den Bahndämmen.

Daß entgegen der ersten Stellungnahmen des Bundesverteidigungsministeriums für die Rhein-Main-Air- base und den Frankfurter Zivilflughafen kein Flugverbot für die Dauer der Giftgaszugfahrt durch die Air-base- und Flughafenanliegerkreise Groß-Gerau und Offenbach-Land erlassen wurde, hat inzwischen die politischen Parteien und die Bürgermeister in den betroffenen Regionen elektrisiert. So meldete etwa die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Kreistag Groß-Gerau, Karin Fischer, „scharfen Protest“ gegen die Aufhebung des zugesagten Flugverbots an. Gerade die nachts auf der Air-base startenden und landenden „Galaxies“ stellten ein nicht hinnehmbares Sicherheitsrisiko für die Giftgastransporte und damit für die gesamte Bevölkerung der Region dar. Die Grünen im hessischen Landtag haben das hessische Innenministerium gestern aufgefordert, umgehend das Flugverbot für Rhein-Main und die Air- base durchzusetzen. Andernfalls sei das Gerede von der „optimalen Sicherheit“ für die Bevölkerung nur „hohles Geschwätz“. Auf der Pressekonferenz in Miesau bestätigte Innenminister Geil, daß nur für die US-Air- base in Ramstein ein Flugverbot erlassen worden sei. Die anderen Flughäfen, so sein Pressesprecher Dietzen, seien mehr als „vier nautische Meilen“ von der Streckenführung entfernt, so daß sich die Anordnung eines Flugverbots erübrige.