■ Gibt es ein Leben nach der Apartheid?: Der erste Tag vom Rest unsres Lebens
Bis vor kurzem war ich auf Tournee durch Deutschland. Nach Südafrika bringe ich vor allem einen Eindruck zurück – sie haben keine Antwort auf die Frage: was passiert jetzt? Mit „sie“ meine ich Euch, die Ihr in Europa lebt. In der Europäischen Gemeinschaft gibt es schon jetzt 30 Millionen Arbeitslose, und das sind nur die offiziellen Zahlen. Dreißig Millionen, das ist fast die gesamte Bevölkerung meines Landes.
Die Rezession, die in den USA und sogar hier in Südafrika nachzulassen scheint, lähmt Europa noch immer, wie eine stämmige Politesse, die dem liegengebliebenen Auto der Wirtschaft unbedingt noch einen Strafzettel verpassen will. Die vereinigten Deutschen knurren sich gegenseitig an. Die Franzosen wurden von Hochwasser und Wasserwerfern weggeschwemmt. Die Briten sind mit dem Kontinent jetzt durch einen Kanaltunnel verbunden und fürchten das Schlimmste. Die befreiten Länder des ehemaligen Warschauer Paktes suchen rechts und links nach Rettung und sind nicht klüger geworden, seit sie die sowjetische Herrschaft abschüttelten.
Schweigen wir auch von jenem Kartoffelsack, dem ehemaligen Reich des Bösen, das inzwischen nur noch aus einer heruntergekommenen Horde unabhängiger und lautstarker ethnischer Gruppierungen besteht, vereinigt durch eine anwachsende Mafiokratie und die Fähigkeit, Atomwaffen an den Höchstbietenden zu verscherbeln.
Und jeden Morgen füllt Bosnien das Fernsehen wie eine Werbeserie. Ich kann mich nicht erinnern, wie viele unglückliche Menschen, Männer, Frauen und Kinder, ich vor meinen Augen sterben sah, während ich in Europa frühstückte.
Wenn man also einen Europäer fragt: „Wie geht es jetzt weiter?“, bekommt man eine Menge heiße Luft zu hören und sehr wenig Substanz, weil einfach keiner etwas weiß. Es gibt wilde Spekulationen über einen möglichen Rechtsruck im Gefolge des als Superstar gehandelten Wladimir Schirinowski. Da ist das ständige Gemurmel über Neonazis und Inflation und die Bedrohung für Freiheit und Bürgerrechte, aber wenn man das Gerede von den Fakten trennt, wird Europa Schritt für Schritt von den akzeptierten Normen der Demokratie weggezwungen, von persönlicher Freiheit und sozialer und politischer Toleranz. Ein Flüchtling im Vorgarten kann jeden Liberalen über Nacht in einen schäumenden Konservativen verwandeln!
Was mich mit einem Schlag wieder auf meine Heimat zurückbringt. Ja, es ist wirklich schön, im April 1994 Südafrikaner zu sein! Vielleicht war ich zu lange fort, daß ich so optimistisch bin, und wenn ich den irritierten Gesichtsausdruck meiner Zuhörer richtig deute, erscheine ich ihnen wohl wie eine Mary Poppins, die verloren, aber glücklich zwischen den Ruinen eines Holocaust umherwandert.
„Wie kannst du so leichtfertig optimistisch sein angesichts des Chaos, das uns hier erwartet?“ fragen sie. Leichtfertig kann ich antworten: „Wir wissen wenigstens, wohin wir gehen.“ Das ist schon der halbe Sieg. Wir bewegen uns von der offiziellen Apartheid in eine demokratische Zukunft. Jeder in Südafrika weiß es: Es ist kein Geheimnis. Wie wir dorthin kommen, ist eine andere Geschichte, aber zumindest spricht jeder darüber, und wenn man es versucht, dann findet man auch Methoden, um diesen unmöglichen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Der Europäer andererseits wirkt verwirrt und geängstigt, selbst von seinen eigenen Ansichten.
Ich habe hier mit vielen gesprochen, seit ich mich wieder unter den alten Realitäten dieses neuen Südafrika niedergelassen habe – zwischen Gewalt, Gerüchten, Vorwürfen, Forderungen und Absurditäten. Einige von uns sind um der Demokratie willen leidenschaftlich für die Wahlen, andere fest entschlossen, nach dem vorhergesagten Erdrutsch auf der Seite der Sieger zu sein. Viele, die der schwarzen Mehrheit fernstehen, sei es aus Furcht oder Verachtung oder Gleichgültigkeit, wissen nichts zu sagen, wenn man sie fragt: „Was glauben Sie?“ Mischlinge sind verwirrt, weil sie den ANC noch mehr fürchten als die Nationalisten. Einige Schwarze, die nicht wissen, wohin sie gehören, würden eher mit der Masse stimmen, um am Leben zu bleiben.
Weiße, die es besser wissen sollten, murmeln dunkel, sie wollten „ins Ausland“ gehen, um abzuwarten und wiederzukommen, „wenn es vorbei ist“. Das klingt, als sei diese Wahl einem gefürchteten Besuch beim Zahnarzt ähnlich! Ist diese Ausübung des öffentlichen Wahlrechts denn genauso schlimm wie sechs Stockschläge vom Schuldirektor? Es ist so einfach. Mach dir klar, was du willst, such dir eine Partei und unterstütze sie.
„Ja“, sagen sie, „aber gestern kamen ein paar Typen ins Haus und wollten wissen, wen wir wählen.“ – „Was habt ihr gesagt?“ – „Wir haben gesagt, das wollten wir nicht sagen, weil die Wahl geheim ist.“ – „Und?“ – „Und sie hätten uns fast das Haus angesteckt.“ – Dann erzählt doch eine Lüge! Herrje, wenn jemand in mein Haus kommt und so wirkt, als habe er noch nichts von Toleranz gehört, dann werde ich ihm eben die Antwort geben, die er hören will. – „Wen willst du wählen?“ – „Dich, mein lieber Genosse, nur dich allein!“
Ich werde sie alle anlügen, den ANC, die Nationale Partei, die Demokratische Partei, den Panafrikanistischen Kongreß, alle; lügen, um sie vom Hals zu kriegen und mein Dach über dem Kopf zu behalten – wenn wir erst den Vorhang vor der kleinen Wahlkabine zuziehen, dann wird niemand mehr wie früher hinter uns stehen und uns ein rassistisches Messer an den Rücken halten. Die Wahl bleibt geheim, und solange wir am Leben bleiben, um die Früchte unserer Wahl zu genießen, wird niemand wissen, daß die tolle zukünftige Regierung nur dank meiner Stimme an die Macht kam!
Wenn wir diese Gelegenheit versäumen, den Heilungsprozeß gemeinsam in Gang zu setzen, nach diesen Jahrzehnten miserabler Regierung und schmählichen Verrats, dann werden wir niemals eine zweite Chance bekommen. Wir müssen nur an eines denken: Was immer wir lesen oder hören, egal, wer wen wessen anklagt, gleichgültig ob sie drohen, unsere Industrie zu nationalisieren und unsere Vermögen zu besteuern – es war alles Wahlkampf. Wir müssen es mit einer Prise Salz nehmen. Das alles wirkt so bedrohlich, weil es so real aussieht, aber weil wir früher nie richtige Politik kannten – in der Vergangenheit hat das Apartheid-Regime einfach seine eigenen Wahlen gewonnen –, ist das alles ein Teil des Erwachsenwerdens, mit Pickeln und allem, was dazugehört. Pieter-Dirk Uys
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