: Gianni Vattimo sucht die guten Geister der Moderne hinter ihren Sachzwängen
Sehen ist Wissen, und Wissen ist Besitz. Außerdem: Es rauscht und flimmert auf allen Kanälen. Dies kurzgeschlossen bedeutet: Der Kanal ist zwar voll, doch der Rausch verflogen. Matt und geblendet haben wir uns von der grellen Festsaalbeleuchtung der Aufklärung abgewendet und stehen deshalb, von allen guten Geistern verlassen, vollkommen enteignet da. So etwa könnte die Kurzdiagnose von Gianni Vattimo über den gegenwärten Zustand der Moderne lauten. Der Turiner Gelehrte wird uns heute abend ein philosophisches Katerfrühstück servieren – Schocktherapie mit Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger und Walter Benjamin.
Anstatt nur die „Neue Unübersichtlichkeit“ zu beklagen, bescheinigt Vattimo vielmehr einen delirierenden Taumel, der uns längst allesamt erfaßt hat. Die Moderne sei ein entfesseltes Immanenzgeschehen, das sein Vermögen zur Selbstbeobachtung und -steuerung fast schon aufgebraucht hat, obwohl es scheinbar dringender denn je einer regulierenden Außenperspektive bedürfe.
Die Auflösung der Gewißheiten hat Vattimo in zahlreichen Publikationen beschrieben (Jenseits vom Subjekt; Das Ende der Moderne), doch geht es ihm in seinem neuen Buch Die transparente Gesellschaft auch darum, „einen Weg in der Explosion des ornamentalen und heterotopen Charakters“ unserer Wirklichkeit zu finden.
Dabei ist die leitende Hypothese Vattimos, „daß sich in der Mediengesellschaft anstelle eines Emanzipationsideals der vollends entfalteten Selbstbewußtheit, des vollkommenen Bewußtseins desjenigen, der um die Dinge Bescheid weiß, ein Emanzipationsideal den Weg bahnt, das vielmehr auf Oszillation und Pluralität, das heißt auf der Erschütterung gerade des ,Realitätsprinzips' beruht“. In dieser Perspektive macht Vattimo eine „Ontologie der Gegenwart“ aus, deren Sein in der zunehmenden Unbestimmtheit und Vervielfältigung besteht und die in besonderer Weise noch einmal, wie vielleicht zuletzt in Adornos Ästhetischer Theorie, die Kunst privilegiert: Weil uns inmitten der Versachlichung allmählich Hören und Sehen vergangen ist, bedarf es des „Schocks als einzigem Kreativitätsrest in der Kunst der Spätmoderne“.
Nur eine solche Erschütterung, und hier knüpft Vattimo an die ansonsten so unterschiedlichen Kunsttheorien Benjamins und Heideggers an, vermag uns noch aus dem betriebsblinden Taumel unserer hektischen Alltäglichkeit herauszureißen. Vattimo erhofft sich davon eine Aufmerksamkeit, die wieder empfänglich wird für das Unheimliche, Nicht-Verfügbare, das die Moderne wie ein Schatten von Anbeginn an begleitet hat.
Christian Schlüter
Heute, 19 Uhr, Italienisches Kulturinstitut, Hansastraße 6
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