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Archiv-Artikel

Gezücht der Schrulliker

Was passiert, wenn ein Tatmensch und Womanizer auf einen Moralisten und Linken trifft: Der Schweizer Autor Markus Werner bändigt in seinem Roman „Am Hang“ die Banalität des Bösen

VON OLIVER PFOHLMANN

„Nein, keine Geschichte ist aus und zu Ende“, bekommt Clarin, der Ich-Erzähler, von Loos, dem kauzigen Witwer mit den knirschenden Zähnen, zu hören, „es gibt nur den willkürlichen Abbruch an einem beliebigen Punkt.“ Am Ende wird der seines Seelenfriedens beraubte Clarin die ersten Sätze seiner Geschichte und damit des Romans schreiben: „Alles dreht sich. Und alles dreht sich um ihn.“

Auch der Leser könnte sich dann fühlen, als sei ihm mit bedächtigen Schlägen ein feiner, glühender Stift ins gefrorene Herz getrieben worden. Und er könnte das dringende Bedürfnis haben, den Roman noch einmal zu lesen, nur dieses Mal mit offenen Augen. Was vielleicht ein wenig pathetisch klingt und, wäre es ein Satz von Markus Werner, sogleich durch Ironie oder eine ausgesuchte Banalität destruiert werden würde. Doch handelt es sich um eine Rezension, und da besteht die Hauptschwierigkeit darin, nicht die böse Pointe dieses Kabinettstücks zu verraten.

Markus Werner also. Seit seinem Erstling von 1984, „Zündels Abgang“, ist der 60-jährige Schweizer Literaturmacher ein Garant für Sucht erzeugende Prosa. In nun sieben Romanen voller Tragikomik, (Selbst-)Ironie und einem Humor, der vor allem einem virtuosen Spiel mit dem Gegensatz von Hoch und Niedrig entspringt, präsentiert der ehemalige Lehrer seine sympathischen Dünnhäuter. Identifikationsfiguren wie jenen Fünfziger, der sich Loos nennt und als Altphilologe vorstellt. Schwerblüter, denen die Welt abhanden gekommen ist und die sich vor lauter Verzweiflung eine misanthropische Maske aufsetzen. Diese hilft zwar wenig, die leibseelische Rebellion zu befrieden, die sich bei Loos in Form von Allergien äußert, sobald er Worte wie „weltkompatibel“ oder „Anforderungsprofil“ hört – verschafft aber zumindest Schwung für rhetorische Attacken auf das „Gezücht der Anschmiegsamen“, die Erfolgsmenschen.

Ähnlich wie schon in „Festland“ wird der Werner’sche Protagonist von außen präsentiert, in all seiner, wie’s zunächst scheint, weltfremden Schrullenhaftigkeit. Diesmal jedoch durch die Augen eines seiner Widersacher, verkörpert durch Clarin, einen lebensfrohen Mittdreißiger und Scheidungsanwalt. Man trifft sich zufällig, an Pfingsten, wenn „die Flammen züngeln“ und der Heilige Geist manch Liebenden ein Fegefeuer entfachen lässt, auf der Terrasse eines Kurhotels in Montagnola. Kommt bei Kaninchenfilet und Weißwein ins Debattieren, streitet sich über Gott und die Welt, die letzten Dinge und den Zeitgeist, über Liebe und die Love Parade, erzählt einander aus seinem Leben. Danach ist Clarins Kokon aus Selbstzufriedenheit zerrissen, ist auch er in jenes Taumeln geraten, das alle Werner-Protagonisten auszeichnet. Größere Gegensätze sind kaum denkbar.

Der eine ist ein leichtsinniger Tatmensch und bedenkenloser Womanizer, ebenso kontaktfreudig wie bindungsscheu. Der andere ein zaudernder Moralist und enttäuschter Linker, dem die Liebe eine Vereinigung von Seelen, nicht von Körpersäften war. Der eine hält die Ehe für eine „glatte Überforderung der menschlichen Natur“, dem anderen war sie „Heimat“. Dem einen fällt, wo man schon mal beim Thema ist, eine Affäre mit einer Valerie wieder ein, der gelangweilten Frau eines Cellolehrers, die er vor genau einem Jahr hier an diesem Ort – sie begann zu klammern – beendete. Der andere trauert noch immer um seine Bettine.

Ein Gehirntumor war der abgöttisch Geliebten entfernt worden, hier hatte sie vor einem Jahr genesen wollen, war aber dann durch einen Unfall ums Leben gekommen. Mysteriöse Bemerkungen von Loos wecken Clarins Verdacht: Hat der Kauz womöglich seine Frau auf dem Gewissen? Und haben sich seine Valerie und Loos’ Bettine seinerzeit im Kurhotel kennen gelernt?

„Allein das Zögern ist human“, behauptet Loos, der, durchaus nicht sinnenfeindlich, den von Clarin verteidigten Erfolg der Pornografie als „Zeichen erotischer Unkultur“ wertet – als Beleg dafür, dass die entfesselten Marktkräfte längst schon den Bereich der Erotik und Intimität assimiliert haben. Auch die sich über zwei Tage erstreckenden Begegnungen der beiden Vertreter verschiedener Generationen, vom sich erinnernden Clarin meist in indirekter Rede wiedergegeben, lassen sich als ein den Höhepunkt raffiniert hinauszögernder Akt lesen – als Ars Amandi und Purgatorium in einem. Zugleich als Werners Plädoyer für die Kunst des Erzählens: mit Annäherungen und Rückziehern, freiwilligen oder unfreiwilligen Entblößungen und Spannung steigernden Pausen.

Es ist der seine, unsere Zeit verteidigende Anwalt, der dabei, wohl erstmals in seinem Leben, gefickt wird. Von Loos, dem lebenden Fossil. Er treibt sein ironisches Spiel mit dem Erzähler, der sich bar jeglicher Empathie nach und nach selbst demaskiert. Mag sein, dass anfangs die Konstruktion etwas knarrt, dass die Figuren mehr dem Reißbrett als dem Leben entstammen und „Am Hang“ nicht ganz an Vorgänger wie „Bis bald“ heranreicht. Spätestens nach fünfzig Seiten ist das vergessen, fängt man Feuer, wirkt die Sprache der Figuren nicht mehr antiquiert oder gestelzt.

Vielmehr erweist sich Werners Stil als effektvoll kalkulierte Form, die bestens geeignet ist, die Banalität des Bösen, die hier verhandelt wird, zu bändigen. Es wurden schon Max Frisch, Albert Camus und Robert Walser als Vorbilder dieses Autors genannt – nach diesem Roman wird man wohl auch an Dostojewski denken müssen.

Markus Werner: „Am Hang“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004; 190 Seiten, 17,90 Euro