Gezerre um den Ganztagsschulplatz: Auf Kosten der Kinder

Jedes Grundschulkind soll Anspruch auf einen Ganztagsschulplatz bekommen. Eigentlich. Doch das Gezerre darum zwischen Bund und Ländern belegt ein problematisches Desinteresse an zukunftsorientierter Politik.

Foto: Christoph Söder / dpa

Von UDO KNAPP

13.07.21 | Jedes Grundschulkind der Klassenstufe 1 bis 4 hat ab dem Jahr 2029 Anspruch auf einen Ganztagsplatz - so steht es im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung aus Union und SPD von 2018. Bis spät in dieses Frühjahr haben die zuständigen Bundesministerien und die Fachpolitiker im Bundestag gebraucht, bis endlich ein Gesetzentwurf vorlag. Er sollte noch vor Ende der Legislaturperiode von Bundestag und Bundesrat beschlossen werden.

Der Entwurf ist nun im Bundesrat auf seiner Sitzung vom 25. Juni von allen Bundesländern abgelehnt und in den Vermittlungsausschuss überwiesen worden. Selbst wenn vor der Bundestagswahl Anfang September noch Sondersitzungen von Bundestag und Bundesrat stattfinden sollten, droht der für die Eltern rechtsverbindliche Anspruch auf einen Ganztagsplatz zu scheitern.

Ein zentraler Schritt zu mehr Bildungsgerechtigkeit

Auch ohne die aktuellen Corona-Folgen für die Schulausbildung aller Kinder mit zu bedenken, wird die Notwendigkeit eines umfassenden und flächendeckenden Ganztagschulsystems überall als einem zentralen Schritt zu mehr Bildungsgerechtigkeit und einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf schon sehr lange von niemandem mehr bestritten. Warum das Ausarbeiten des Gesetzentwurfes bis kurz vor Ende der Legislatur gebraucht hat, ist öffentlich daher nicht nachvollziehbar.

Die Länder jedenfalls, in deren Zuständigkeit für alle Bildungsfragen dieser Gesetzentwurf massiv eingreift, haben faktisch keine Gelegenheit gehabt, sich substantiell am Gesetzgebungsprozess zu beteiligen. Ihre Ablehnung des Gesetzentwurfes ist daher verständlich.

Die gemeinsame Verantwortung von Bund und Ländern für das ganze Gemeinwesen wird auf diesem föderalen Verschiebebahnhof vom Bund zum Nachteil der Leute aufgelöst.

Genau betrachtet hat der Bund mit diesem Entwurf eine Finanzierungsregelung für die Umsetzung eines Rechtsanspruches der Bürger festgezurrt, bei der die Länder die langfristig wachsenden Kosten für den Ausbau der verbindlichen Ganztagsschule aus den ihnen zustehenden und frei verfügbaren Gemeinschaftssteuern aller Bundesbürger selbst aufbringen müssen.

Länder bleiben auf Großteil der Kosten sitzen

Nach bisherigen Schätzungen des Deutschen Jugendinstitutes geht es um 7,5 Milliarden Euro Investitionskosten für den Projektstart. Dafür gewährt der Bund eine Anschubfinanzierung von jetzt 3,5 Milliarden. Zum Erreichen einer Vollauslastung für alle anspruchsberechtigten Kinder wird von jährlich weiteren erforderlichen 4,5 Milliarden ausgegangen. Der Bund will sich zwar an diesen Kosten bis zu 50 Prozent beteiligen, aber den Rest müssen die Länder aus ihren Haushalten selbst aufbringen. Für die Betriebs- und Personalkosten der neuen Einrichtungen bleiben die Länder faktisch in fast vollem Umfang allein zuständig.

Wenn also der im Bund beschlossene Rechtsspruch so Gesetz wird, wie vorgesehen, dann müssen die Länder in ihren Haushalten auch unter den Zwängen der sinnvollen Schuldenbremse massiv bei anderen Ausgaben Kürzungen vornehmen.

Die Maßnahmen sind sicher sinnvoll. Das Problem ist, dass der Bund die Länder dazu zwingt, ohne mit ihnen darüber auch nur ansatzweise zu sprechen und zu verhandeln, wie diese Ausgaben in die Prioritäten-Anordnung der Länder eingefügt werden können.

Dabei ist im Artikel 106 GG verpflichtend festgelegt, dass Bund und Länder gemeinsam die Deckungsbeiträge, die dafür jeweils aufgebracht werden müssen, fair miteinander aushandeln. Davon kann keine Rede sein, wie auch schon bei vielen anderen Projekten zuvor, etwa beim Gute-KiTa-Gesetz.

Gemeinsame Verantwortung sieht anders aus

Wohltaten des Bundes zu Lasten der Länder mit der Keule des einklagbaren Rechtsanspruches für alle Bürger durchsetzen: So könnte eine solche Politik auch beschrieben werden. Damit zwingt die Bundesregierung den Ländern ihre politische Agenda auch in Bereichen auf, für die sie originär weder nicht zuständig ist, noch vom Wahlbürger haftbar gemacht werden kann.

So klingt dann das Argument für die Öffentlichkeit: Der Bund wollte ja den Rechtsanspruch auf den Ganztagsplatz einführen, aber die Länder geben das Gemeinschaftsgeld aus den Steuern der Bürger eben lieber für, sagen wir, exzessiven Straßenbau aus, für sinnlose Wirtschaftsförderung, etwa der Werften in Mecklenburg-Vorpommern oder für andere Lieblingspolitiken der jeweiligen Provinz. Die gemeinsame Verantwortung von Bund und Ländern für das ganze Gemeinwesen wird auf diesem föderalen Verschiebebahnhof vom Bund zum Nachteil der Leute aufgelöst.

Süd-Nord-Bildungsgefälle und neue Ungerechtigkeiten

Das Drama hat noch eine andere Seite. Genau hingesehen hat der Bund in Bildungsfragen überhaupt keine Zuständigkeit. Wenn die Länder also die Ganztagsplätze für die Grundschulkinder für politisch richtig halten, dann könnten sie aus den Anteilen der ihnen zustehenden Gemeinschaftssteuern von Bund und Ländern diesen Ausbau selbst planen und auch umsetzen. Kretschmanns Baden-Württemberg und Söders Bayern nutzen das durchaus kreativ für das Modernisieren ihrer Bildungssysteme.

Dieser Gebrauch der alleinigen Zuständigkeit der Länder in Bildungsfragen hat zu einem oft dramatischen Süd-Nord-Bildungsgefälle geführt, das neue Bildungsungerechtigkeiten zur Folge hat.

Dabei könnten die Länder zusammen das geltende Bildungssystem für die ganze Republik in eigener Zuständigkeit vereinheitlichen und dann den Bund mit gemeinsamer Macht in dessen Finanzierung einbinden würden. Das wäre ein aktiver Föderalismus. Stattdessen lassen die Länder sich in vielen Einzelfragen immer wieder Zuständigkeiten und Kompetenzen vom Bund gegen zusätzliche Steuermittel aus dem Gemeinschaftstopf regelrecht abkaufen, wie beim jüngst verabschiedeten Gesetz zur Förderung von Investitionen finanzschwacher Kommunen.

Desinteresse an zukunftsorientiertem, strategischen Denken

Wenn Bund und Länder dieses selbstbezogenen politische Handeln so weiter betreiben, wie es auch in der Corona-Politik der letzten zwei Jahre zu sehen war, dann verwandeln sich die Länder langfristig selbst in aufgeplusterte Regierungsbezirke und die Landesregierungen in untere Regierungsbehörden.

Es ist daher und auch in Hinblick auf das gemeinsame Haus Europa sehr sinnvoll, darüber nachzudenken, wie national die Gestaltungsgewichte der verschiedenen Handlungsebenen im Staatsaufbau und deren aufgabengerechte Ausstattung mit den notwendigen Finanzmitteln so austariert werden, dass die Vorteile dezentraler Gestaltungsmacht nicht verloren gehen.

Das Gezerre um den Ganztagsschulplatz belegt allerdings ein veritables Desinteresse an zukunftsorientiertem, strategischen Denken. Dass dies alles auf Kosten der Kinder geht, ist ein bittere Pointe, weil das weit über den geschilderten Hickhack hinausgeht.

UDO KNAPP ist Politologe.

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