Gewerkschaften suchen Nachwuchs: Nachhilfe in Arbeitskampf
Die Gewerkschaftsjugend besucht Berufsschulen, um Azubis über ihre Rechte aufzuklären - und so neue Mitglieder zu gewinnen. Doch viele sehen die Gewerkschaftsarbeit mit Skepsis.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat 3.200 Azubis in Berlin und Brandenburg nach ihren Arbeitsbedingungen befragt. Am Dienstag stellten die Gewerkschafter die Ergebnisse des neuen Ausbildungsreports vor. Demnach verdienen die Azubis im Schnitt rund 350 Euro im Monat. Jeder Achte, der nicht mehr als 400 Euro bekommt, muss nebenbei arbeiten, um seine Existenz zu sichern. "Eine beunruhigende Tendenz", sagte Doro Zinke,
DGB-Vorsitzende im Bezirk Berlin-Brandenburg. Sie forderte 500 Euro im Monat für jeden Auszubildenden.
Jeder dritte Azubis gab in der Umfrage an, Überstunden leisten zu müssen. Vielfach würde diese Mehrarbeit nicht abgegolten. Das betrifft vor allem Auszubildende im Hotel- und Gaststättengewerbe, so der DGB. "Die Abhängigkeitssituation der Jugendlichen wird ausgenutzt, man setzt sie als billige Arbeitskräfte ein", sagte Zinke. Rund 36.000 Ausbildungsplätze gab es nach Angaben des DGB 2008 in Berlin. Dem standen 49.000 Bewerber gegenüber.
Damit hat sich die Situation etwas entspannt: 2007 kamen auf 39.000 Ausbildungsplätze noch 67.000 Bewerber. ALL
Es kann nur besser werden, zumindest aus Sicht von Ver.di und Co. "Wie viel wisst ihr über Gewerkschaften?", fragt der Workshopleiter Moritz Kirchner die Azubis. Zwei Zettel liegen in der Mitte auf dem Boden, auf dem einen ist ein Minus, auf dem anderen ein Plus gemalt. Kichernd schieben sich Mädchen in engen Jeans und Stiefeln und Jungs mit gegelten Haaren durch den Raum. Die meisten stellen sich in die Nähe des Minus. Sie wissen nicht viel über das Thema. "Ich darf gar nicht in eine Gewerkschaft, sonst werde ich gekündigt", ruft eine Vorlaute. Eine andere sagt: "Gewerkschaften versuchen, Arbeitnehmerinteressen durchzusetzen." Moritz Kirchner nickt. Das ist immerhin ein Anfang.
Ein Vormittag im Oberstufenzentrum in der Kreuzberger Wrangelstraße. Der Unterricht für die jungen Leute, die seit Herbst eine Ausbildung zur Veranstaltungskauffrau oder zum Veranstaltungskaufmann machen, fällt heute aus. Stattdessen sind Kirchner und seine Kollegin gekommen, um die Azubis über ihre Rechte aufzuklären. Politische Bildung aus Sicht der Arbeitnehmervertreter: Sie wollen informieren, welche Aufgaben Gewerkschaften haben - und so vielleicht den ein oder anderen für die Organisation gewinnen.
Linker Idealismus
Die Jugend des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) tourt regelmäßig durch die Berufsschulen in Berlin und Brandenburg. Denn den Gewerkschaften laufen seit Jahren die Mitglieder davon. 2001 hatte der DGB in der Region noch 545.000 Mitglieder. 2008 sind es noch rund 400.000. "Wir gehen davon aus, dass die Zahlen nicht weiter absinken", gibt sich der Sprecher des DGB, Dieter Pienkny, hoffnungsvoll.
"Früher fand ich Gewerkschaften schnarchig. Aber als idealistischer junger Mensch kann man da etwas bewegen." Moritz Kirchner, ein lebhafter Psychologie-Student in schwarzem Kapuzenpulli, will die Jugendlichen mitnehmen. Sein Alter hilft ihm dabei, er ist erst 24. Vor zweieinhalb Jahren sei er mit ein paar Freunden bei Ver.di eingetreten, erzählt er. Sie hätten den Laden aufmischen wollen. Kirchner jobbt neben dem Studium für die Linkspartei im Brandenburger Landtag. Die Schulungen in den Oberstufenzentren mache er auch deshalb, um mehr von der "Welt der Arbeitenden" mitzukriegen, wie er erklärt.
Den meisten Jugendlichen ist der eigene Alltag bei der Messe Berlin, dem Admiralspalast oder einer Veranstaltungsagentur näher als ein linker Idealismus. Das weiß auch Kirchner. "Wie zufrieden seid ihr mit eurer Ausbildung?", lautet daher die nächste Frage. Viele drängeln in Richtung des Zettels mit dem Plus. "Ich mache eine Ausbildung bei Hertha BSC und bin sehr glücklich", verkündet Sarah, ein blondes Mädchen mit Perlohrringen. Sie habe selbst Fußball gespielt und nun ihr Hobby zum Beruf gemacht. Andere bleiben in der Mitte des Raumes stehen. Nur einer baut sich hinter dem Minus-Zettel auf. "Bei uns ist das Arbeitsklima schlecht. Für blöde Zeiten gibt es die blöden Azubis. Die Schichten liegen so, dass ich kaum mehr Freunde treffen kann."
Auf den spielerischen Einstieg folgt eine kurze Lehrstunde in deutscher Sozialgeschichte. Bis in die Siebzigerjahre habe meist gegolten: Geht es dem Unternehmen besser, profitieren davon auch die Beschäftigten, erklärt Kirchner. Heute sei das allerdings immer seltener der Fall. Seine Kollegin schreibt groß "Arbeitgeber - Arbeitnehmer" auf das Flip-Chart. Dazwischen malt sie einen roten Blitz. Das soll den Interessengegensatz verdeutlichen.
Sarah von Hertha BSC gefällt dieses Schema nicht. "Ihr tut so, als wären Arbeitgeber böse. Das stimmt doch gar nicht. Jeder Arbeitnehmer kann schließlich auch mal Arbeitgeber werden." Die Gewerkschafterin will widersprechen. Aber Sarah hat sich schon in Rage geredet. "Wir müssen uns eben anpassen, um höher zu kommen. Die Leute sollen froh sein, dass sie überhaupt Arbeit haben."
Hitzige Diskussion
Neben ihr hat eine Braunhaarige auf ihrem Stuhl mit geschlossenen Augen gedöst. Jetzt wird sie plötzlich wach. "Aber Sarah, man drängt uns in diese Rolle. Unsere Chefs wollen doch, dass wir alles akzeptieren, 100 Überstunden und was weiß ich was." Ein Junge nichtdeutscher Herkunft springt Sarah bei. "Gewerkschaften stellen echt wahnsinnige Forderungen, zum Beispiel die BVG. Dabei gehts den Menschen ohne Job echt viel schlechter."
Die Diskussion wird hitzig. "Wenn so ein Busfahrer glaubt, dass er zu wenig verdient, soll er halt was anderes machen", motzt Sarah. Zu ihrer Nachbarin sagt sie leise: "Ich glaube, ich werde Arbeitgeberin." Die Gewerkschaftsargumente widerstreben ihr. Sie glaubt fest daran, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist.
Von unten nach oben
Das ist das Lebensmotto der 20-Jährigen. Sarah ging früher auf die Hauptschule. Von ihrer Familie bekam sie keine Unterstützung, trotzdem wechselte sie auf die Realschule und schließlich auf das Gymnasium, wo sie Abitur machte. Manchmal habe sie gedacht, sie könne nicht mehr. "Aber man darf sich nicht hängen lassen." Ihr Ziel sei es, in eine höhere gesellschaftliche Schicht zu gelangen als die, in der sie aufgewachsen sei. "Ich will mit meinem Leben zeigen: Man kann es schaffen, von unten nach oben zu kommen."
Bei Hertha organisiert Sarah Veranstaltungen wie Autogrammstunden mit den Profis. Sie arbeite täglich neun Stunden, auch an den Spieltagen sei sie im Einsatz, erzählt sie. Wie viel sie verdient, will sie nicht sagen. Selbst wenn es nicht mehr als einige hundert Euro sind, Sarah würde sich nicht beschweren. "Ich mache den Job gerne."
"Hey, seid mal ruhig", ruft Moritz Kirchner in das Gemurmel. Er versucht, die Diskussion auf eine sachlichere Ebene zu leiten. "Ich freue mich über jeden, der es aus eigener Stärke nach oben schafft. Aber was ist mit den Schwächeren?" Gewerkschaften seien für diese Menschen eine große Hilfe.
Die beiden Ver.di-Vertreter erklären, was Tarifverträge sind, für wen sie gelten. Sie reden auch über gesetzliche Bestimmungen - zum Beispiel darüber, dass ein Unternehmen seine Auszubildende nicht mehr als 48 Stunden in der Woche arbeiten lassen darf. Das löst Erstaunen aus. "Wie bitte? Wenn wir eine Veranstaltung haben, bin ich bestimmt 72 Stunden eingespannt", ruft eine, die bei einem Theater lernt. Eine Auszubildende in einem Medienbetrieb erzählt, eine 60-Stunden-Woche sei für sie normal. "Das ist illegal", erklärt Kirchner.
Paul* meldet sich zu Wort, ein älterer Azubi in lila Longshirt. "Ich bin schon dafür, das man sich für bessere Arbeitsbedingungen einsetzen sollte." In seiner Agentur sei aber keiner gewerkschaftlich organisiert. "Wie soll ich als Einzelner da was ausrichten?"
Paul erzählt, er arbeite 40 Stunden die Woche. Das Unternehmen behandle ihn wie einen festen Mitarbeiter. Er verdiene aber nur 358 Euro netto. "Das reicht gerade für die Miete und das Telefon." Um seinen Lebensunterhalt bezahlen zu können, trete er neben der Ausbildung am Wochenende als Musiker auf.
Tatsächlich berührt Paul mit seinem Einwand einen wunden Punkt. In größeren Unternehmen wie etwa Siemens gibt es eine gewerkschaftliche Tradition. Forderungen sind da leichter durchzusetzen. Gerade in kleinen Dienstleistungsbetrieben, zu denen auch viele Firmen der Azubis im Kreuzberger Oberstufenzentrum zählen, gibt es aber oft keine Betriebsräte, geschweige denn eine Jugend- und Auszubildendenvertretung.
Für die Gewerkschaften ist es in diesem Bereich besonders schwer, neue Mitglieder zu werben. "Wenn es in Unternehmen keine engagierte Leute gibt, bricht die Jugendarbeit zusammen", berichtet Ver.di-Sprecher Andreas Splanemann. Hinzu komme, dass Jugendliche sich allgemein seltener institutionell binden - sei es bei politischen Parteien, in den Kirchen oder eben den Gewerkschaften. "Früher war der Opa in der Gewerkschaft, der Vater in der Gewerkschaft, die Tochter oder der Sohn dann natürlich auch. Heute ist die Nachwuchsarbeit viel mühsamer", sagt Splanemann.
Branche ohne Betriebsräte
Im Oberstufenzentrum erläutert Kirchner das Problem im Veranstaltungsbereich. "In eurer Branche wissen viele gar nicht, dass sie sich organisieren können." Paul springt darauf an. "Wenn wir alle in die Gewerkschaft eintreten und streiken würden, könnten wir schon etwas ausrichten", schlägt er vor. Sarah hält dagegen. "Das klappt doch sowieso nicht. Dann sucht sich mein Chef eben jemand Neues."
Der Dissens bleibt. In der Abschlussrunde sagen viele, dass sie den Vormittag interessant fanden. "Ich habe schon was mitgenommen. Aber wie sich Gewerkschaften in der Veranstaltungs- oder Werbebranche durchsetzen wollen, das habe ich nicht verstanden", meint einer. Andere nicken. In Sarah brodelt es noch immer. Sie erklärt trotzig: "Also für mich ist das alles nichts."
* Name geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!