Gesundheitsdebatten-Chaos in den USA: Hakenkreuz und Grabstein
Hitzig wird in den USA die geplante Gesundheitsreform diskutiert. Gegner bezeichnen sie als "Todes-Gremium", schmieren Hakenkreuze an Bürotüren und werden handgreiflich.
![](https://taz.de/picture/342315/14/0619.jpg)
Es scheint, dass das wirklich heiße Vergnügen der US-Amerikaner in diesem Sommer nicht der Strand ist, sondern der Besuch von “town hall”-Meetings, sogenannten Rathaus-Debatten. Thema dieser Debatten sind nicht etwa die Rezession oder schwindende Arbeitsplätze, sondern ausgerechnet die Gesundheitsreform.
Keine Frage hat seit dem Wahlkampf im vergangenen Jahr die Gemüter mehr erhitzt, als die nach der Zukunft des maroden US-Gesundheitssystems. Die stellte US-Präsident Barack Obama im Mai offensiv dem US-Kongress, der sich dauraufhin selbst in heillosen Streitereien verzettelte.
Nachdem es dann vor der Sommerpause im Kongress Anfang August zu keiner Abstimmung über die insgesamt fünf Reformentwürfe kam, war klar: Das wird ein ungemütlicher Sommer. Lobbygruppen beider Seiten nutzen wie erwartet die parlamentarische Pause, um für breite Unterstützung ihrer Positionen in der Bevölkerung zu werben. Bei der Wahl der Mittel sind beide Seiten keinswegs zimperlich, wie US-weite Meldungen zeigen.
Was seine Wähler von staatlich verordneter Gesundheitsversorgung halten, das bekam vor wenigen Tagen David Scott, ein konservativer demokratischer Kongressabgeordneter aus Georgia zu spüren. Nicht genug dass Scott, wie viele seiner Amtskollegen im ganzen Land, ein Rathaustreffen einberufen hatte das schnell handgreiflich wurde. Einige Tage später fand der schwarze Politiker ein fettes Hakenkreuz auf seine Wahlkreis-Bürotür gesprüht.
Zuvor hatte Scott einige temperamentvolle Kritiker angeschnauzt, sie hätten sich vorher bei ihm melden können, anstatt nun das Treffen, das ursprünglich einem Highway-Projekt gewidmet war, zu torpedieren. Scott warf anschließend vor laufenden Kameras, mit einem bereits landesweit bekannten Flugblatt wedelnd, den Kritikern vor, organisiert zu sein.
Auf dem Flugblatt ist Präsident Obama zu sehen, als durchtriebener Joker im Batman-Film. Ein anderer Kongressabgeordneter aus Texas fand seinen Namen auf einem symbolischen Grabstein wieder, während anderswo US-Medien berichteten, dass Kongressabgeordnete “nur“ angeschrieen worden seien.
Der prominente demokratische Senator Arlen Specter erlebte am Dienstag bei zwei Diskussionen in Pennsylvania auch sein blaues Wunder. Er wurde von aufgebrachten Bürgerinnen als “Tyrann” beschimpft. Ein Teilnehmer versicherte dem gestandenen Politiker, ihn und seine Capitolskollegen werde Gottes gerechter Zorn ereilen.
Ein anderer schrie Specter, der Obamas Reformpläne unterstützt, ins Gesicht, Amerika werde in Russland verwandelt, womit er auf die landesweit gefürchtete “sozialistische” Medizin anspielte. Um ihn herum skandierten derweil mehrere hundert zornige Bürger: “Du dienst uns!” und “Lies gefälligst den Gesetzentwurf”.
Den medienwirksamsten Coup in all der Kakophonie teilte die Ex-Gouverneurin von Alaska und gescheiterte republikanische Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin vor wenigen Tagen aus. Die Politikerin, die ihren Gouverneursposten vergangenen Monat völlig überraschend aufgab, hatte behauptet, Obama wolle ein staatliches "Todes-Gremium" schaffen.
Dieses Gremium solle darüber entscheiden, wer es wert sei, in den Genuss von Gesundheitsfürsorge zu kommen und wer nicht. "Ein solches System ist geradezu böse", hatte Palin behauptet und damit gezielt auf Ängste angespielt, der US-Staat könne in Zukunft die Leistungen von Krankenkassen bestimmen und ältere, morbide Patienten benachteiligen.
Die USA streiten seit knapp hundert Jahren über die Einführung einer universalen, allen zugänglichen Gesundheitsversorgung. Das Gesundheitswesen in den USA gilt als das weltweit teuerste. Ärztliche Dienste und Medikamente kosten in der Regel bis zu viermal mehr als in Europa. Vor allem aber sind über 46 Millionen von 300 Millionen Amerikaner unversichert und daher dramatisch unterversorgt.
Noch am Dienstagmorgen hatte Obama einem vielfach veröffentlichten Kommentar von Parteigenossin und Parlamentspräsidentin Nancy Pelosi widersprochen. Darin rügte Pelosi intolerantes und dezidiert destruktives Verhalten bei den hitzigen Debatten als schlicht “unamerikanisch”. Obama begrüßte hingegen demonstrativ die partizipatorische Demokratie in den USA.
Doch schon am Nachmittag appellierte Obama an seine Gegner, zu Vernunft und Sachlichkeit zurückzukehren. Ausdrücklich warnte er davor, die lange überfällige Reform zu dämonisieren. Auf Palin anspielend sagte Obama bei einem Bürgertreffen in Portsmouth in New Hampshire, Kritiker versuchten, "einen Buhmann zu konstruieren, den es in Wahrheit nicht gibt". Das Publikum rief er dazu auf, nicht auf diejenigen zu hören, "die dem amerikanischen Volk Angst machen und es in die Irre führen wollen".
"Jedes Mal, wenn wir nahe dran sind, eine Gesundheitsreform durchzusetzen, schlagen die speziellen Privatinteressen zurück," sagte ein sichtlich frustrierter Obama. "Was wirklich Angst macht, ist die Situation, wenn nichts gemacht wird." Obama kündigte an, er wolle die Gesundheitsreform bis Ende des Jahres unter Dach und Fach haben.
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