Gestern und heute. Wie taz-Leser die 68erund die Grünen erleb(t)en: Vom Mord- zum Wortspiel
betr.: Dossier 1968, taz vom 27./28. 1. 01, „Scharfes Schwarz“, taz vom 29. 1. 01
[...] Ich empfinde klammheimliche Trauer angesichts von Lebensläufen, die sich vom Mordspiel („Stadtindianer“) zum Wortspiel („Deutsch für Ausländer“) bewegt haben. Klaus Hülbrock ist nicht der einzige. Also verstehe ich auch Hülbrocks Wunsch, sich einen weiteren Eintrag ins Wörterbuch der aktuellen Polemik zu verdienen; sein neuer Text ist aber genauso verquast und heillos wie schon sein 77er Text; und genauso wenig wie jener dient er zur Identifizierung/Identifikation:
Unter Druck sich identifizieren zu müssen, ist Praxis in Polizeirevieren und eine Zwangslage, um die ich jetzt Fischer und Trittin nicht beneide: Was der heutige Buback von Trittin wollte ist, in schlecht staatsanwaltlicher Manier, genau dies: eine Aussage erzwingen, die dann voraussehbar gegen den Mann verwendet wird. Und genau richtig ist, in dieser Situation der individuellen In-Gewahrsam-Nahme zu tun, was schon die Gewährsleute der Veröffentlichung des „Nachrufs“ taten: einen Diskussionszusammenhang herstellen.
Nicht nur über mögliche Legitimationen von Gewalt, sondern genauso auch über Varianten von „Identität“, die völlig quer zum polizeilichen „Identifizieren Sie sich!“ liegen: die beschworene Internationale Solidarität (in der Variante „Ich als Tupamaro“ wie auch im „Ernteeinsatz in Nicaragua“); dann die verführerischen Varianten sexueller Identität („Ich als Schwuchtel“, „Ich als Feminist“); und nicht zuletzt die, nach dem Horror des faschistischen „Volksgenossen“, besonders heiklen Modelle kollektiver Identität („Ich als Demonstrationsteilnehmer“, „Ich am Megafon“, „Ich als Kader“, „Ich als Rädchen im Parteiapparat“); und plötzlich (?) die Erfahrung nicht Weniger: „Wir als Mehrheit“ (zum Beispiel im Bundestag).
Wenn es denn stimmt, dass „Wir alle nach Ich-Identität im Lebenszyklus“ streben (Semler), so hilft es vermutlich wenig, sich polemisch zurückzunehmen („Wir waren klein, hundsgemein und schäbig“, K. Hülbrock). Die Möglichkeiten zumindest zur Interpretation bleiben, einmal angedacht und ausprobiert, schrecklich offen. WALDO ELLWANGER, Oldenburg
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen