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Archiv-Artikel

Gestapelte Wirtschaft in England

PROJEKT In der Kleinstadt Salford bei Manchester wird in einer Pionierarbeit die Produktion von Lebensmitteln umgestellt – mithilfe eines Kulturfestivals und afrikanischen Wissens

VON THOMAS VORREYER

Das nordenglische Salford ist – wenn überhaupt – durch die Musikgeschichte bekannt. Ian Curtis von Joy Division, Mark E. Smith (The Fall) und die beiden Happy Mondays Shaun Ryder und Bez wurden hier geboren. Im Joy-Division-Film „Control“ ist der Gründungsort der Band als trostloses Abziehbild aus schiefem Klinker und himmelragendem Beton zu sehen.

Zuletzt päppelten jedoch Gelder aus London Manchester und auch das unmittelbar auf der anderen Seite des Irwell Rivers gelegene Salford auf. Die BBC hat ihre Sport- und Kinder-Sparten in die Stadt verlegt, vor zwölf Jahren kam das erste Fünf-Sterne-Hotel der Region.

Ein Biomarkt eröffnete hier jedoch erst vor einem Monat. „78 Steps“ heißt der kleine Laden, der im Erdgeschoss einer 1966 errichteten Wohnplatte ein breites Angebot bietet. Seine Wurzeln liegen im nur jene 78 Schritte entfernten Biospheric Project, Europas erstem im urbanen Raum angesiedelten agrarwirtschaftlichen Labor. Hier werden seit Kurzem diverse Nahrungsmittel produziert – rein organisch und in einem angehend autarken Kreislauf.

Vor zweieinhalb Jahren begann Leiter Vincent Walsh mit einem Startkapital von 300 Pfund. In diesem Jahr steht das Projekt im Auftrag des Manchester International Festivals, einem Kulturfestival, das so sein elf Millionen Pfund schweres Programm interessant erweiterte und eine Großspende organisierte. Auch dank einer niedrigen Miete bei einem Bauträger für innovative Stadtentwicklung wird nun auf den drei Etagen einer ehemaligen Druckerei sowie deren Dach und Garten eine Vielzahl unterschiedlicher (Agri-)Kultursysteme gepflegt.

„Wir sind nicht an einem einzigen System interessiert, sondern daran, mehrere zu einem naturähnlichen Ökosystem zusammen zu fügen, innerhalb eines postindustriellen Gebäudes und einer Gemeinde“, sagt Walsh. Der Motion-Grafikdesigner besitzt einen Master in Architektur und Urbanismus, das auf zehn Jahre angelegte Biospheric Project ist seine Doktorarbeit.

Diese umschließt nun unter anderem ein aquaponisches System, das Fischzucht mit dem Anbau von Pflanzen in Hydrokulturen verbindet. Im zweiten Stock schwimmen Barsche und Karpfen in Aquarien. Die Fischabfälle wiederum düngen Substrate in den benachbarten Rampen mit Kräutern, Beeren und Salaten.

Auf dem Dach leben Hühner, Bienen und, von einer dicken Strohschicht bedeckt, circa 30.000 Regenwürmer in einem Beet. Bis ein Wurm verfüttert wird, lockert er den Boden, verarbeitet die Abfälle des 78 Steps und scheidet Nährstoffe für den angrenzenden Waldgarten aus.

Das formgebende Prinzip für den Waldgarten, die Agroforstwirtschaft, stammt aus den Tropen und wurde erstmals in 1960ern von Robert Hart auf die britischen Begebenheiten angewandt. Walsh, der solche über Jahrhunderte hinweg gepflegten Gärten in Nigeria und Äthiopien untersucht hat, entwickelte sein Salforder Pendant zusammen mit dem Hart-Schüler Martin Crawford. Bis zu 18 Schichten aus unterschiedlich hohen Pflanzen und anderen Komponenten können solche vertikalen Strukturen umfassen. „Wir werden insgesamt elf haben: sieben pflanzliche, dazu die Würmer und drei Pilzschichten“, erklärt er.

Neben den Würmern sind die Pilze Kernstück des ganzen Systems, schließen „sprechen“ die Pflanzen über das Myzel miteinander, tauschen Bausteine aus. Die Erträge von Obst- und Nussbäumen sollen zusammen mit denen der Hydrokulturen sowie Honig, Eiern, etc. direkt bei 78 Steps und im eigenen Versand Whole Box verkauft werden.

Bis diese Versorgung allein gestemmt werden kann, ist Walsh allerdings noch auf Hilfe angewiesen. Mit einem Biovertrieb schloss er deshalb einen Umsatzvertrag über 50.000 Pfund für ein Jahr ab, um alles von Beginn an komplett bestücken zu können: „Der Laden ist die entscheidende Stelle des gesamten Projekts, schließlich machen wir hier die Leute mit unseren Produkten und Ansätzen vertraut.“

Auf einer großen Tafel im Shop können die neuen Kunden Wünsche zur Angebotserweiterung festhalten. Die örtlichen Supermärkte gelten dabei nicht als Konkurrenz: Ihre Pestizid belasteten und somit potentiell Krebs verursachenden Waren sind in Walshs Augen „Non-Food“. Seine luftdicht abgeschlossenen, auf alten Kaffeesätzen gezogenen Seitlinge und Shiitakepilze werden hingegen bereits in lokalen Restaurants für ihren Geschmack gepriesen.

Damit sich so etwas herumspricht, startet im Herbst diesen Jahres ein 60 Kurse, Führungen und Workshops umfassendes Bildungsprogramm, welches alle Alters- und Bildungsschichten ins Haus holen soll. Schon jetzt, während eines Besuchs an einem Julisonntag, ist der erste Stock voller Kinder, denen sich hier eine Art Jugendzentrum bietet. Viele der im Schnitt zwölf Angestellten kennen sie persönlich, denn Walsh stellt vor allem Leute aus der direkten Umgebung ein. Nicht nur deshalb sind die Lebensmittel „hyper-lokalisiert“ und ihre CO2-Bilanz besonders erfreulich.

Allerdings: Noch muss gezielt in den Produktionskreislauf eingegriffen werden. Wann sich das System selbst tragen wird, kann Vincent Walsh nicht abschätzen. Aber: „Wie betreiben die Forschung dazu dort, wo sie benötigt wird, mit den Leuten aus dem Ort.“ Ein nicht unwichtiger Nebenaspekt für eine Stadt wie Salford, deren Arbeitslosenrate trotz neuer Glas- und Stahlfassaden mit rund 10 Prozent weit über dem Landesschnitt liegt.