Gestaltwechsel, Politikwechsel etc.: Jenseits von Boheme und Dissidenz
■ Michael Naumann ist der erste Repräsentant des physiognomischen Wechsels. Darin gleicht er eher dem Ideal des Unternehmers als dem des Künstlers. Kleine Typenkunde zur Wende
„Die Erneuerung der Regierung“, befand vor mehr als einem halben Jahr der Merkur-Herausgeber Karl Heinz Bohrer, „läge nicht im Wechsel der politischen Farbe, sondern im Wechsel der Physiognomie.“ Politiker und Politik, so das niederschmetternde Urteil des Ästheten Bohrer, haben hierzulande keine Gestalt. Alles war Kohl geworden, der formlose Körper der Republik. Daß mit dem überraschend kräftig leuchtenden Farbwechsel am schönen 27. September auch ein physiognomischer Wandel vollzogen wurde, verkörpert derzeit niemand besser als Michael Naumann, um den herum in diesen Tagen das Amt eines Staatsministers für Kultur gestrickt wird.
Seine zurückhaltende Eleganz fiel den Kameras zuletzt auch dort auf, wo er bloß als andächtiger Lauscher im Parkett saß. Wo er auftritt, liegt Champagnerduft in der Luft. Michael Naumann repräsentiert einen Politiker-Habitus, den man von einer rot-grünen Regierung am allerwenigsten erwartet hätte. Diesem Wandel dürfte auch die rührig unschickliche Weigerung grüner Männer wie Jürgen Trittin nichts anhaben, der unter Zuhilfenahme von Weste und T-Shirt mit eingelassenem Reißverschluß immerzu die obligatorische Krawatte beharrlich zu vermeiden hat. Der Politikwechsel offenbart noch stilistische Unsicherheiten. Unter Naumanns Kulturhoheit aber scheint das Fischgrät-Jacket entsorgt zu werden, die GEW-kompatible Einheitsjoppe hiesiger Intellektueller. Der Grund dafür wäre dann allerdings nicht modischer, sondern politischer Natur.
Mit Michael Naumann tritt erstmals ein Angehöriger der Intellektuellenbranche aus der sicheren Deckung abwägender Politikberatung heraus, die noch jede SPD-Wählerinitiative für Willy Brandt und andere zum geordneten Rückzug nach absolviertem Engagement bewog. Die Pose, in reiner Form von Günter Grass vorgetragen, war betont politisch, aber durchhaltbar war sie letztlich nur in der Gestalt des Künstlers, in der Seinsform kontrollierter Abweichung.
Für einen Künstler mag man den Typus, den Naumann vertritt, auf den ersten Blick halten, weil er so gar nicht in das politische Umfeld paßt, in dem er nun die Belange der Kultur organisieren soll. Seine burschikose Meinungsfreude in Sachen Berliner Stadtschloß, Goethe-Institute und Holocaust-Mahnmal mochten diesen Eindruck noch bekräftigen. Die Äußerungen Naumanns waren weder durch Verfahrenssicherheit noch durch kulturpolitische Kompetenz gedeckt. Öffentlichen Beifall erhielten sie, weil da einer sprach, der unbekümmert sagt, was er will. Und wie er es sagte, das klang zugleich nach Boheme und Dissidenz.
Von der Elitenfigur des Künstlers, der die kollektive Phantasie vor allem in den sechziger und siebziger Jahren beschäftigte, ist Naumann allerdings ebenso weit entfernt wie Grass seinerzeit von der des Politikers. Das symbolische Kapital, das Naumann in den letzten Wochen nicht zuletzt im Feuilleton gewinnbringend angelegt hat, entstammt dem Typus des Unternehmers.
Naumanns öffentliche Wirkung basiert auf dem Prinzip einer schöpferischen Zerstörung, wie sie der österreichische Nationalökonom Joseph Schumpeter dem Unternehmer zugeschrieben hat. „Die soziale Heimatlosigkeit“, so Schumpeter, „die Beschränkung auf das Aufsuchen und Durchsetzen neuer Möglichkeiten, das Fehlen dauernder Beziehungen zu individuellen Betrieben sind diesem Typus vor allem zu eigen.“ Mit Michael Naumann tritt der Intellektuelle als Medienunternehmer in die Politik. Das birgt eine reizvolle Konstellation mit offenem Ausgang. Der Kampf um kulturelle Hegemonie verlangt nach neuen Definitionen.
Eines der interessantesten Experimente der rot-grünen Ära wird darin bestehen, wie einst unverrückbar scheinende Dichotomien in ein unideologisches Politikfeld überführt werden. Dabei dürfte der Intellektuelle Naumann weniger gefragt sein als der Moderator. Die erste herkulische Aufgabe einer solchen Moderation betrifft das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas, zu dem keine weiteren Argumente, sondern eine politische Entscheidung das Gebot der Stunde ist. Sie wird die erste bedeutsame Handlung des neu konstituierten Bundestags werden. Die schöpferische Zerstörung des Unternehmers hilft dabei so wenig wie die Inspiration des Künstlers. Naumann erste Amtshandlung könnte es sein, den äußerlich vernehmbaren Wechsel politisch auf den Weg zu bringen.
Harry Nutt
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