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GesellschaftLästig bleiben

Sie wollen das System sprengen: Engagierte Bildungsexpert:innen fordern eine völlig veränderte, kindgerechte Lernkultur in Baden-Württemberg. Eine Petition soll der Politik zur Landtagswahl 2026 Druck machen.

Neue Lernkultur? Ein grundlegend anderer Umgang mit Kindern und Jugendlichen im Unterricht. Foto: Joachim E. Röttgers

Von Johanna Henkel-Waidhofer↓

Seit viereinhalb Jahren haben die Grünen erstmals in der Landesgeschichte die Verantwortung für das Schulwesen in Baden-Württemberg. Für essenzielle Veränderungen in der Bildungspolitik fehlte die politische Mehrheit, dafür, die wichtigsten Stellschrauben wenigstens zu benennen, der Mut. Kurz vor der Landtagswahl wollen die pensionierte Lehrerin Dagmar Schäfer und ihre Mitstreiter:innen deshalb den Reformwillen der Verantwortlichen per Petition testen.

Seit 1. Juli 2025 gibt es die Möglichkeit, im Parlament mittels 10.000 Unterschriften eine Expertenanhörung durch Online-Unterschriftensammlung zu erwirken. Das schafft Öffentlichkeit, die Fraktionen müssen sich positionieren. Ein Antrag war besonders erfolgreich: Der Petitionenausschuss hatte sich gemeinsam mit interessierten Innenpolitiker:innen noch einmal mit dem Einsatz der umstrittenen Analysesoftware „Gotham“ des noch umstritteneren US-Riesen „Palantir“ befasst. Zwar ist das dafür notwendige geänderte Polizeigesetz inzwischen vom Landtag beschlossen. Zugleich waren aber in der öffentlichen Petitionssitzung am 6. November weitreichende Versprechen dargelegt worden, darunter, dass die Nutzung der Software per Rechenzentrumsinfrastruktur der hessischen Polizei ohne Verbindung mit dem Internet gewährleistet sei und vor allem die Einbindung des Parlamentarischen Kontrollgremiums.

Nun wollen auch Dagmar Schäfer und Mitstreiter:innen zu dem neuen Instrument greifen: Die Pädagog:innen, Eltern, Bildungsexpert:innen wollen „die Flickschusterei in der baden-württembergischen Bildungspolitik seit Jahrzehnten“ beenden. Der erste Schritt ist, ebenfalls eine öffentliche Anhörung im Landtag durchzusetzen, der zuständige Petitionsausschuss müsste dann noch vor dem 8. März über ihr Anliegen „Neue Lernkultur – Jetzt!“ debattieren. Dank der auf diese Weise erreichten Öffentlichkeit könnten die Forderungen nach einem grundlegend anderen Umgang mit Kindern und Jugendlichen im Unterricht in den Koalitionsvertrag der nächsten Landesregierung einfließen – so die Hoffnung. Eine Homepage ist jedenfalls geschaltet, die Unterschriftensammlung online könnte in der zweiten Dezemberwoche beginnen. Gefordert werden nicht nur ein neuer Bildungsbegriff, sondern auch mehr Geld und mehr Personal für gute Schulen.

Für den Paradigmenwechsel in Baden-Württembergs Schulen, auf den die Initiator:innen drängen, steht im Netz ein einfaches Beispiel aus Neuseeland. In Fünfer-Gruppen sollen Kinder die Aufgabe rund um Jennys Schweine und Enten lösen. Die haben 28 Füße, wie viele Schweine und Enten besitzt sie also? Dabei geht es nicht nur um das Ergebnis der Rechenaufgabe wie beim baden-württembergischen Kompass 4, dem im Vorjahr restlos verunglückten Kompetenztest. In Neuseeland, ein Vorbild der Petent:innen, erklären die Kinder nach 20 Minuten auch, wie sie zur Lösung gelangt sind. Weil es vor allem darauf ankommt, Interesse und Begeisterung fürs Lernen zu wecken und wachzuhalten.

Andere Schulen zeigen: Es geht

Zusammengetragen haben die Trommler:innen für eine veränderte Lernkultur solche Beispiele, und sie bieten konkrete Einblicke in Vorbildschulen. In Westfalen, im Münsteraner Stadtteil Berg Fidel, setzt eine Brennpunktschule auf multiprofessionelle Teams, die ihre jeweiligen Klassen über Jahre begleiten. Von der „Verantwortungsgemeinschaft“ schwärmt Schäfer, „die jedem Kind vermittelt, dass es dazugehört“.

In der Alemannenschule in Wutöschingen, Landkreis Waldshut gibt es die Klassen 1 bis 13 und das vielbeschriebene längere gemeinsame Lernen und Lehren, das die Grünen in ihrer ersten grüngeführten Landesregierung ab 2011 gemeinsam mit der SPD landesweit verankern wollten. Die Strukturreform misslang, Gemeinschaftsschulen wurden nicht zum Normalfall, sondern ein Angebot unter vielen anderen Schularten ab der fünften Klasse.

Die Initiative „Neue Lernkultur – Jetzt!“ wirbt für ein Bildungsverständnis, wie es hierzulande gerade an Gemeinschaftsschulen entwickelt wurde, das von Kindern und Jugendlichen ausgeht und von der Frage, welche Haltung Schule eigentlich vermitteln will. Schüler:innen dürfen in ihren Augen nicht als Objekt betrachtet werden. „Darüber muss man doch eigentlich nicht streiten“, sagt Dagmar Schäfer, „das könnten auch CDU und FDP anerkennen, weil doch jeder Kinder in der Familie hat und sieht, dass es sich um Subjekte handelt mit Bedürfnissen und Wünschen“. Würde diese Erkenntnis ernst genommen, liegt für die frühere Lehrerin der Veränderungsbedarf auf der Hand. Sie hofft darauf, dass die Parteien und Entscheidungsträger im Südwesten endlich den vielen internationalen Erkenntnissen zum Thema Leistung und Bildungsaufstieg vertrauen. „Ich bin nur David“, sagt die 66-Jährige, ohne Goliath genauer zu definieren. „Aber wenn wir uns zielorientiert zusammentun, können wir für die Kinder und unsere Gesellschaft viel erreichen.“

Auch zu Kita-Gebühren gibt es eine Online-Petition

Schließlich ist sie eine geübte Einmischerin, vor allem im Schwarzwald. Sie hat das umstrittene Parkhaus auf dem Feldberg bereits 2006 problematisiert, wenn auch nicht verhindert. Mit anderen zusammen rupft die Grüne das Drüsige Springkraut, weil das ganze Flusstäler übernehmen kann. 2020 setzte sie sich mit anderen erfolgreich für den Erhalt des europäischen Schutzgebietes Windgfällweiher im Hochschwarzwald ein. Und sie hatte 2023 gemeinsam mit dem damaligen Landeselternbeiratsvorsitzenden einen Volksantrag „Gute Schule jetzt!“ gestartet. Im Zuge der Bildungsreform und der Rückkehr zum neunjährigen klassischen Gymnasium sollte durchgesetzt werden, dass in der Regel ein Team von zwei Lehrkräften in Grundschulklassen unterrichtet. Ein Erfolg war ihr nicht gegönnt.

Gerade deshalb will sie die neue Chance der Beteiligung nutzen. „Sie können“, heißt es auf der Homepage des Landtags, „ein Anliegen von allgemeinem Interesse als Petition mit der Bitte um Veröffentlichung an den Landtag richten.“ Es werde geprüft, ob sie zur Behandlung als öffentliche Petition geeignet sei. Falls ja, könnten andere Interessierte mitzeichnen. Ab 10.000 Unterschriften findet „in der Regel eine öffentliche Anhörung statt“. Zur Verfügung stehen noch drei Sitzungswochen im kommenden Jahr – immer unter der Voraussetzung, dass die nötigen Unterschriften zusammenkommen.

Gegenwärtig sind neun Petitionen zur Mitzeichnung öffentlich. Gute Chancen auf eine Anhörung noch vor der Landtagswahl hat ein zweites bildungspolitisches Anliegen. Eine Elterninitiative aus Baden-Baden wirbt dafür, die Finanzierung der Kinderbetreuung neu zu regeln, weil Kommunen und Familien immer weiter unter Druck geraten. Der Rechtsanspruch auf frühkindliche Bildung und Betreuung drohe schleichend durch stetig steigende Elternbeiträge ausgehebelt zu werden. Und auch der soziale Zusammenhalt zwischen den Generationen sei gefährdet. Verlangt werden die Einsetzung einer unabhängigen und gut ausgestatteten Arbeitsgruppe und „konkrete, tragfähige und gerechte Vorschläge“.

Die zuständigen Abgeordneten sind jedenfalls begeistert. „Es war ein langer Weg“, sagt Andreas Kenner, der sozialdemokratische Obmann im Ausschuss. Aber jetzt sei ein Quantensprung gelungen – fürs Parlament und vor allem für die Bürgerschaft, die sich nun leichter Gehör und ein Mitspracherecht verschaffen kann.

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