piwik no script img

GesellschaftVon der Wiege bis zur Bahre

Seit Jahrzehnten schwören völkische Sippen Kinder und Jugendliche auf ein kämpferisches Leben ein: um das Blut einer deutschen „Volksgemeinschaft“ reinzuhalten. Das Netzwerk agiert meist im Hintergrund – doch Recherchen legen enge Verbindungen zur AfD offen.

Drei Jahre nach dem Angriff auf Migranten tanzt Kadvan B. (grünes Hemd) auf dem „Pfingstlager“ in Marxen. Foto: isso.media

Von Andrea Röpke

Das Haus der Burschenschaft „Franco-Bavaria München“ in der bayerischen Landeshauptstadt befindet sich unweit der U-Bahn-Station „Universität“. Am 1. August 2021 griff „Fuxmajor“ Kadvan B. gemeinsam mit weiteren Burschen zwei Migranten wegen ihres nicht-weißen Aussehens an. Der Reutlinger Student und seine Kameraden schlugen auf ihre Opfer ein, einem brachen sie das Nasenbein. Kadvan B. war geständig und wurde im Januar 2025 vor dem Amtsgericht München wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer milden Geldstrafe verurteilt. Zuvor hatten die aus der rechten Szene stammenden Verteidiger der Burschenschafter noch versucht, Geschädigte und Zeugen mit Gegenanzeigen einzuschüchtern.

Kadvan B. entspricht nicht dem Klischee eines Nazi-Schlägers. Der rothaarige junge Mann aus Schwaben entstammt einer sogenannten völkischen Sippe. Hinter diesen bundesweit aktiven, verschworenen Familiennetzwerken verbergen sich vermeintliche Vorzeigedeutsche: Einserzeugnisse, äußerst musikalisch, bodenständig und patriotisch. Doch das Weltbild ist radikal und menschenverachtend – und schlägt bisweilen in physische Gewalt um. Die völkische Ideologie geht von einem rassisch bestimmten Volksbegriff aus, sie ist Kernelement des Rechtsextremismus, fest verankert auch in den Satzungen der AfD.

Zur Bewegung im Hintergrund zählen Tausende Sippen-Angehörige aus antisemitischen Organisationen wie der „Artgemeinschaft-Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung“, aus rechten Gildenschaften, Bünden und Burschenschaften, der „Jungen Landsmannschaft Ostdeutschland“ oder dem „Schutzbund für das deutsche Volk e.V.“. Dieser 1981 in Heidelberg gegründete Verein spendete dem Neonazi Thorsten Heise ein Denkmal der “Leibstandarte-SS Adolf Hitler und der 12. SS-Panzerdivision Hitlerjugend“. Die Vorsitzende Heilwig Holland aus Ochsenhausen, ehemaliges Landesvorstandsmitglied der „Republikaner“, trat 2019 als Referentin vor Holocaust-Leugnern auf. Nach 1945 übernahmen völkische Kulturvereine wie das „Deutsche Kulturwerk Europäischen Geistes“, der „Freundeskreis Ulrich von Hutten“ oder die „Gesellschaft für freie Publizistik“ die Aufgabe, für ideologischen und personellen Zusammenhalt zu sorgen.

Im Vordergrund steht das Ziel, die kulturelle Tradition rechtsgerichteten Denkens an die nächsten Generationen weiterzugeben. Das Ideal eines elitären, wehrhaften Deutschtums ist wichtiger Bestandteil der Erziehung. Dieser schwer fassbare Teil des braunen Sumpfes gilt als besonders anschlussfähig an bürgerliche Kreise. Staatliche Aufklärung oder Warnungen sind nicht zu finden.

Die „Fahrenden Gesellen“

Kadvan B. besuchte schon als Kind mit seiner Familie die Lager der „Fahrenden Gesellen“. Diese fühlen sich bis heute mehr der Romantik, dem Erleben und den Instinkten zugehörig als der Zeit der Aufklärung mit ihrer „Vernunftsgläubigkeit“. Der Name geht auf den gleichnamigen Wanderbund zurück, den Kaufmannsgehilfen und Lehrlinge vom „Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband (DHV)“ 1909 nahe Hamburg gegründet hatten.

„Völkische Bünde hatten sich schon damals der Blut- und Boden-Ideologie verschrieben“, erklärt Jesko Wrede, Politologe und Berliner Autor der Fachbroschüre „Wer trägt die schwarze Fahne dort?“. NS-Verbrecher wie Heinrich Himmler, Werner Best, Walther Darré, Rudolf Höß und Reinhard Heydrich wurden bündisch sozialisiert. Aus dem Ideal einer homogenen “Volksgemeinschaft“ begingen die Nationalsozialisten ihre Verbrechen, die Millionen von Menschen das Leben kosteten.

Drei Jahre nach Kriegsende gründeten sich die „Fahrenden Gesellen“ in Wilsede, Lüneburger Heide, neu und verschrieben sich gemeinsam mit dem angehängten „Deutschen Mädelwanderbund“ der Volkstumsarbeit im Hintergrund. Ihre Idole blieben nationalistische Dichter wie Ernst Moritz Arndt und Nationalsozialisten wie Hans Grimm, Autor von „Volk ohne Raum“. In Marxen in der Lüneburger Heide betreiben sie ein „Landheim“, treffen sich zu „Arbeitseinsätzen “und „Führerschulungen“ wie im August 2018. Völkische Bünde betreiben „eine Art Abenteuerpädagogik von rechts“ warnt Professor Gideon Botsch von der Universität Potsdam, das ziehe eine „ideologische Festigung“ nach sich.

AfD und Völkische

An einem „Pfingstlager“ im niedersächsischen Marxen nahm 2024 auch Kadvan B.s Familie aus Reutlingen teil. Rund vierzig Erwachsene und Kinder hatten sich mehrere Tage versammelt. Es gab diverse schwarze Kohten, eine aufwendige Holzkonstruktion mit Holzstämmen und die wehenden blau-gelben Fahnen des Frauen- und Männerbundes. Zum Tanz auf der Wiese spielte die Neonazistin Gerhild Drescher mit dem Akkordeon auf. Diese beteiligte sich an einem Aufmarsch zu Ehren der inzwischen verstorbenen Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck und an Aktionen der rechtsextremen „Identitären Bewegung“. Kadvans Vater Harald B., Beruf Instrumentenbauer, ist einer der Anführer der Abteilung „Gau Schwaben“ bei den „Fahrenden Gesellen“, nahm aber auch an sogenannten überbündischen Treffen wie dem „Erntetanz“ von Rechtsextremen im Allgäu oder am „Maitanz“ 2022 in Hüttlingen teil – der in der dortigen Stadthalle stattfinden konnte. Harald B. und seine „Sippe“ beteiligten sich zudem an Aufmärschen von “Querdenken“.

Auch die AfD-Europaabgeordnete Irmhild Boßdorf schickte mindestens eine Tochter zu den “Fahrenden Gesellen“ und deren Frauenbund. Später beteiligte sich die Tochter – wie viele andere Rechtsbündische – an Aktionen der „Identitären Bewegung“. Als „Jugend ohne Migrationshintergrund“ greifen die „Identitären“ gerne auf den bestens geschulten Nachwuchs rechter Bünde zurück. Sie gelten ebenso als Kaderschmieden für die AfD.

2008, Brilon im Sauerland: Fotos aus Kreisen der „Fahrenden Gesellen“ und dem “Mädelwanderbund“ zeigen zwei junge Frauen, die zu einem befreundeten Bund gehörten, der rechtsextremen „Heimattreuen Deutschen Jugend“. Diese wurde ein Jahr später wegen ihrer Verfassungsfeindlichkeit und NS-Wesensverwandtschaft vom Bundesinnenministerium verboten. Zu Gast in Brilon waren Töchter von Gernot Mörig, dem Organisator des „Geheimtreffens“ in Potsdam, über das „Correctiv“ im Januar 2024 berichtete und damit Massenproteste gegen rechts auslöste.

Zucht und Ordnung

Völkische ziehen im politischen Hintergrund die Fäden. Edda Schmidt, ein NPD-Urgestein aus Bisingen, gründete den „Sturmvogel – Deutscher Jugendbund“ 1987. Sie war Schriftleiterin der 1994 verbotenen paramilitärischen „Wiking-Jugend“. Ihre Kinder und Kindeskinder, erzählt sie gerne, seien alle „im nationalen Lager“. Gekleidet in ein gelbes Dirndl mit Puffärmeln hielt Schmidt 2010 einen per Video aufgezeichneten Vortrag, in dem sie Dinge sagt wie „die Frau“ habe „die Aufgabe der Wahrung von Zucht und Ordnung“, von ihr hänge „der Fortbestand eines Volkes, aber auch seine Qualität ab“, sie sei „Bewahrerin des rassischen Erbes“. Schmidt betont: „Es ist für uns ganz besonders wichtig, unser Blut reinzuhalten.“ Edda Schmidt, die beim Neonazi-Aufmarsch in Dresden im Februar 2025 als Rednerin auftrat, stammt aus einer bekennenden NS-Familie, der Vater Sepp B. war Mitglied der verbrecherischen SS und Referent der baden-württembergischen NPD.

Von nichtrechten Bünden und Pfadfinderschaften wurde Schmidts „Sturmvogel“ 2013 gemeinsam mit anderen rechtsextremen Bünden vom 100. Jubiläum des „freideutschen Jugendtages“ am Hohen Meißner in Nordhessen ausgeschlossen. Aus Protest organisierten die abservierten Bünde im selben Jahr eine eigene Meißner-“Fahrt“, eine Wanderung, die von der Burg Ludwigstein zum Berg Hoher Meißner führte.

Mit dabei war nicht nur der aus Ravensburg stammende Spiritus Rector der sogenannten Neuen Rechten, Götz Kubitschek, der seine Töchter zum „Freibund“ schickte, sondern auch sein Freund Peter Felser aus dem Allgäu. Der war früher Mitglied von den „Republikanern“ und sitzt heute für die AfD im Bundestag. Felsers Tochter war 2013 zehn Jahre alt, als ihr Vater sie bei der „Meißner-Fahrt“ auf den Schultern trug. In den Folgejahren schloss sie sich dann einem weitaus radikaleren Bund an, dem nationalsozialistischen „Jungadler“, der ebenfalls in Baden-Württemberg aktiv ist.

Der „Jungadler“

Ende Dezember 2023 mieteten sich rund 40 überwiegend junge Menschen für ein „Winterlager“ im Freizeitheim in Geislingen am Kocher ein. Das uniformierte und militärähnliche Auftreten des “Jungadlers“ erregte den Argwohn von Anwohnern. Einer filmte heimlich einen Fahnenappell, andere riefen die Polizei. Obwohl Beamte des Polizeipräsidiums Aalen eine Jugendgruppe in Begleitung von Betreuern antraf, die „vermutlich ein völkisches Weltbild“ vertraten, wurde nichts unternommen. Straftaten seien nicht festgestellt worden. Kein Wunder, oft wissen Beamte wenig über die völkische Lebenswelt.

Die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ und das ARD-Magazin „Kontraste“ berichten 2025 darüber, dass die Berliner Staatsanwaltschaft dem Verdacht nachgeht, ob unter dem Namen “Jungadler“ die berüchtigte, verbotene HDJ weitergeführt wird – was illegal wäre. „Die HDJ zählte zu den radikalsten Neonazigruppen in Deutschland, bis zu ihrem Verbot 2009 indoktrinierte sie Kinder und Jugendliche in der Freizeit nach dem Vorbild der Hitlerjugend“, warnt „Die Zeit“: „Man stellte ihnen Adolf Hitler als ‚Held unserer Geschichte‘ vor, malte ihnen Hakenkreuze in die Gesichter, ließ sie in Uniform zu Fahnenappellen antreten und unterrichtete sie in ‚Rassenkunde‘.“

Spuren des konspirativen „Jungadler“ führen zu Familien in Baden-Württemberg, deren Namen führend in der paramilitärischen „Wiking-Jugend“ waren. Als die „Gaue“ Württemberg, Franken, Hessen und Rheinland-Pfalz der „Wiking-Jugend“ am 23. September 1990 in Neckarsulm ihr heidnisches „Erntefest“ feierten, sprach der „Gauführer Schwaben“, Ralf W., damals in Ditzingen und Ludwigsburg lebend. Nach dem Verbot der „Wiking-Jugend“ 1994 tauchte das Ehepaar W. in den Reihen der Nachfolgeorganisation HDJ wieder auf.

W. und seine Ehefrau, die ebenfalls aus der „Wiking-Jugend“ stammt, nahmen auch am “Pfi ngstlager“ der HDJ in Eschede 2007 teil. Frau W. ist Lehrerin, war in Calw tätig. Familienmitglieder organisierten 2022 einen völkischer „Maitanz“ in Hüttlingen, Kreis Ostalb, bekannte Rechtsextreme fanden sich ein. Kinder der „Sippe“ W. wurden im nationalsozialistischen “Jungadler“ erzogen.

Auch in Edda Schmidts Familie führt die Spur zum „Jungadler“. Der Ehemann einer Enkelin stammt aus Rudersberg im Rems-Murr-Kreis und zählt zu den „Älteren“ des umstrittenen Bundes. Maßgeblich an den Aktivitäten des „Jungadlers“ beteiligt ist ein Kind von Laurens Nothdurft, der als parlamentarischer Berater für die AfD in Baden-Württemberg arbeitete und inzwischen Roßlauer Ortsbürgermeister in Dessau-Roßlau, Sachsen-Anhalt, ist. Nothdurft und seine Ehefrau wiederum gehörten in ihrer Jugend der HDJ an. Am diesjährigen 8. Mai, dem Tag der Befreiung, hielt Nothdurft Roßlaus offizielle Gedenkrede, in der, wie die taz berichtet, weder der Holocaust noch SS-Verbrechen thematisiert wurden und noch nicht einmal das Wort „Nationalsozialismus“ fiel. So bestimmt das völkische Denken wieder Politik mit.

Dank einer Vielzahl von Spenden konnte Kontext das Projekt „Recherche gegen Rechts“ ins Leben rufen. Bis ins Frühjahr 2026 werden im Wochentakt Veröffentlichungen erfolgen, die rechtsextremen Strukturen in Baden-Württemberg nachgehen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen