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Gesellschaft„Renitent junger Hüpfer“

Der Kontext-Mitgründer Josef-Otto Freudenreich wird 75 Jahre alt. Ein Kollege der „Süddeutschen“ erinnert sich an den journalistischen Start-upper aus Stuttgart, wo mit dem Protest gegen Stuttgart 21 plötzlich krasse Sachen passierten.

Josef-Otto Freudenreich beim Memory-Spielen mit Politsprüchen, April 2021. Foto: Joachim E. Röttgers

Von Roman Deininger

Josef-Otto Freudenreich war zarte 64, als er von einem renommierten Mediendienst ein Kompliment an den Kopf geworfen bekam, das er mutmaßlich sofort mit der Einnahme mehrerer Aspirin behandeln musste. Er sei der „große alte Mann der Alternativpresse“ hieß es da bei „turi2“, es war ein Satz, in dem sich zwei Attribute einen erbitterten Kampf um die Vorherrschaft lieferten: das wärmende „groß“ und das vergleichsweise eisige „alt“.

Es ist nicht überliefert, ob die Deutsche Rentenversicherung sich jemals um Kontaktaufnahme mit dem renitent jungen Hüpfer Freudenreich bemüht hat; erfolgreich kann sie dabei jedenfalls nicht gewesen sein. In einer Lebensphase, in der andere die Plackerei langsam hinter sich lassen, wurde Freudenreich zum Start-upper, zumindest wenn man der Definition des Silicon-Valley-Unternehmers Eric Ries folgt: „Ein Start-up ist eine menschliche Institution, die ein neues Produkt oder eine neue Dienstleistung in einem Umfeld extremer Ungewissheit entwickelt.“

Mit extremer Ungewissheit musste klarkommen, wer sich Anfang der 2010er-Jahre in der gesellschaftlichen Hitze des Stuttgarter Kessels an der Gründung einer anzeigenfreien Wochenzeitung versuchte. Anzeigenfreiheit und Einnahmeverzicht, das ist ein Konzept, das nicht nur im Silicon Valley etwas sonderbar anmutet – auch in Baden-Württemberg behindert es die Eigenkapitalbildung eines Start-ups erheblich. Bloß auf die Hege und Pflege von 1.500 Soli-Unterstützern zu setzen: einen Börsengang macht das praktisch unmöglich. Unter solchen Umständen ist das pure Überleben das höchste aller wirtschaftlichen Ziele.

In Stuttgart machten alle plötzlich krasse Sachen

Kontext gibt es nun seit 14 Jahren, für eine Alternativzeitung ist das nah an der Ewigkeit. Oder in Freudenreich-Zeitrechnung: sieben Mal länger als die „Karlsruher Rundschau“, die er Anfang der 1980er-Jahre höchst vorübergehend ins Leben gerufen hatte. Aus dem Experiment ist eine Erfolgsgeschichte geworden, die bundesweit Beachtung findet.

Wer Ende 2010 mit dem neugierigen Blick eines Bayern die Beobachtung schwäbischer Umtriebe aufnahm, erlebte die Gründung von Kontext als Teil des politischen Erwachens der Stuttgarter Bürgerschaft. Auf einmal machten alle ganz krasse Sachen: der Kretschmann, der Juchtenkäfer, der Freudenreich. Letzterem genügte es nicht, ein Stachel im Fleisch der Mächtigen zu sein. Das Gerät, das der leidenschaftliche Investigativreporter zum Einsatz brachte, glich schon eher einer dieser gigantischen Tunnelbohrmaschinen aus dem Hause Herrenknecht, die irgendwann trotzdem begannen, seinen schönen Kopfbahnhof zu unterhöhlen.

Wir erinnern uns an die Stuttgart-21-Gegnerin, die einmal unter den Bürofenstern einer überregionalen Tageszeitung am Rotebühlplatz demonstrierte. Die Frau fand, dass die Zeitung die Deutsche Bahn allzu freundlich bewertete, und sie empfahl, sich „am Josef“ ein Beispiel zu nehmen, wie mit solchen „Gangstern“ umzuspringen sei.

Für Grüne wie Schwarze ein Trigger auf zwei Beinen

„Wirkungsjournalismus“ hat Freudenreich das genannt, was er mit Kontext macht. Wirkung war zum Beispiel, wenn ein wütender grüner Landtagsabgeordneter im Parlamentsfoyer mit ein paar Journalisten zusammenstand, die fahrlässigerweise den jüngsten Freudenreich-Text nicht gelesen hatten – und der Abgeordnete dann so lange über die abgrundtiefe Infamie des Artikels schimpfte, bis ihn wirklich jeder nachlesen wollte. Für Grüne wie Schwarze gleichermaßen ein Trigger auf zwei Beinen zu sein, diesen Spagat kriegt Freudenreich auch im Seniorenturnbereich noch schmerzfrei hin.

Einmal waren bei Kontext zwei Korrespondenten einer Tageszeitung zu Gast, der in Josef-Fan-Kreisen nachgesagt wurde, die Gangster von der Bahn nicht hart genug anzufassen. Die beiden auswärtigen Reporter waren zur schonungslosen Blattkritik geladen und ließen sich bei diesem Unterfangen auch vom Wandschmuck der Kontext-Räumlichkeiten nicht einschüchtern, der mit schwarz-weißer Sozialfotografie einen allzu naiven Blick auf die Verhältnisse im grünen Land von vornherein unterband. Wichtigste Erkenntnis jenes Tages: Freudenreich kann nicht nur austeilen, sondern auch einstecken, wie sich das für einen früheren Sportjournalisten gehört.

Der Autor Freudenreich ist zu beträchtlicher Schärfe fähig, aber auch zu einer Leichtigkeit und einem Witz, die der Schärfe die schlimmsten Kanten nehmen. Eine fulminante Kombination, zu der Freudenreich wie gesagt stets fähig, aber halt nicht stets willens war. Auf jeden Fall kann der ehemalige Chefreporter der „Stuttgarter Zeitung“ auch im gesetzlichen Rentenalter noch schreiben, wie es wenigen gegeben ist. In einem einzigen Satz zum Beispiel das Panorama eines Landstrichs aufspannen: „Das ganze Oberschwaben war voll von Gesundbeterinnen, umherfliegenden Geistern, unstandesgemäßen Liebschaften, und gegen alles halfen diese Wallfahrten.“

Neigung zu Aufbegehren und Widerspruch

Gegen Freudenreich hilft Schwarzen wie Grünen oft nichts mehr, und dennoch gestehen manche von ihnen zähneknirschend zu, dass den Mann die authentische Sorge um den regionalen Journalismus antreibt – und um die kleine, große Freiheit jedes Journalisten, selbst Ministerpräsidenten und Daimler-Managern mindestens ein Interview lang furchtlos auf Augenhöhe begegnen zu können. Oder drogenaffinen Fußballtrainern. Fundstück aus dem Archiv der „Stuttgarter Zeitung“, Freudenreich zum Auftakt eines Gesprächs mit Ex-VfB-Coach Christoph Daum: „Herr Daum, als wir uns im Sommer vergangenen Jahres getroffen haben, hatten wir den Eindruck, dass Sie einer Kerze gleichen, die an beiden Enden brennt.“

Die Neigung zu Aufbegehren und Widerspruch, hat Freudenreich mal erzählt, sei ihm als Ministrant in oberschwäbischen Beichtstühlen ausgetrieben worden. Da kann man der katholischen Kirche in Oberschwaben nur zurufen: offenbar nicht gründlich genug. Wenn Freudenreich über die „uniformierte Presse“, die „Altmedien“ oder die „Verlegerpresse“ klagt, gleicht er ohne jegliche Zuhilfenahme von Rauschmitteln einer Kerze, die an beiden Enden brennt.

Irgendwo unter seinem Schreibtisch muss er eine Quelle haben, aus der immer neue, nicht maximal charmante Begriffe für jene Welt sprudeln, die er vor gut 15 Jahren hinter sich gelassen hat.

Die wirtschaftlichen Leiden dieser Welt hat er seither oft richtig diagnostiziert – die journalistischen Leistungen, die dort weiterhin erbracht werden, bisweilen aber auch konsequent übersehen. Nicht jedes fiebrige Blatt, das eine Kontext-Analyse todsicher auf dem „Gang zum Friedhof“ wähnte, ist jemals dort angekommen.

Ob wir Josef-Otto Freudenreich womöglich in diesem einen Punkt zu ein wenig Altersmilde bewegen können? Das Timing wäre plausibel. Am 23. Oktober wurde der große alte Mann der Alternativpresse 75 Jahre alt.

Roman Deininger ist Chefreporter der „Süddeutschen Zeitung“. Als langjähriger Korrespondent in Baden-Württemberg kennt er die politische und journalistische Szene im Land.

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