Gesellschaft: „Radikalenerlass ist die falsche Antwort“
AfD-Lehrer, Reichsbürger als Erzieher, rassistische Polizisten. Wer will das? Werner Siebler von den „Initiativen gegen Berufsverbote“ warnt vor einem, wie es heißt, gegen die AfD gerichteten Radikalenerlass 2.0 und kritisiert die jüngsten Vorschläge aus dem Südwesten.
Von Hermann G. Abmayr (Interview)
Rheinland‑Pfalz kündigte kürzlich eine Verwaltungsvorschrift an, nach der Bewerbende für den öffentlichen Dienst, Beamte und Angestellte erklären müssen, dass sie in den vergangenen fünf Jahren keiner „extremistischen Organisation“ angehört haben. Beispielsweise der AfD oder den Reichsbürgern. Nach heftigen Protesten soll nun eine Einzelfallprüfung kommen. In Baden-Württemberg forderte der SPD-Landtagsabgeordnete Sascha Binder eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz. Die Grünen wollen dies auf Beschäftigte der Polizei, der Justiz und des Landtags beschränken.
Herr Siebler, Ihre Initiative hat der Politik immer wieder vorgeworfen, auf dem „rechten Auge“ blind zu sein. Wie stehen Sie zu den neuesten Entwicklungen?
Berufsverbote im öffentlichen Dienst wegen bloßer Mitgliedschaft in einer Organisation stellen eine eklatante Verletzung der Grundrechte dar. Dies haben die Gerichte durch alle Instanzen wiederholt bestätigt. Darüber hinaus verstoßen sie gegen die Normen der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen (ILO), die Deutschland ratifiziert hat. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Praxis für rechtswidrig erklärt. Ich erinnere an den Fall der Lehrerin Dorothea Vogt.
Als DKP-Mitglied wurde sie wegen des Verdachts eines Dienstvergehens 1980 suspendiert. Sie ging bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und konnte schließlich in den Schuldienst zurückkehren. 1995 stellte der EGMR fest, Niedersachsen habe mit seinem Berufsverbot für Vogt gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen.
Ich wundere mich vor allem darüber, dass jetzt SPD und Grüne diesen Vorstoß machen. Beide Parteien haben noch vor kurzer Zeit mit unserer Initiative über die Aufarbeitung der alten Berufsverbote diskutiert. Ein Ergebnis war die wissenschaftliche Arbeit der Universität Heidelberg über den Radikalenerlass, die zu dem Schluss kommt, dass er der Demokratie geschadet habe. Aber offensichtlich gilt mittlerweile der alte Sponti-Spruch: legal, illegal, scheißegal.
Nur wer in Rheinland-Pfalz glaubhaft seine Verfassungstreue darlegen könne, solle eingestellt werden, sagt SPD-Innenminister Michael Ebling. Auf der Liste der problematischen Gruppen und Parteien stehen neben der AfD auch linke Organisationen.
Ja, insgesamt hat Ebling dort in Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz 86 „extremistische Organisationen“ aufgelistet, darunter auch angeblich „linksextreme“, zum Beispiel die anarchistische Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union, die Deutsche Kommunistische Partei DKP, deren Jugendorganisation SDAJ, die Rote Hilfe, die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands MLPD oder eine Gruppe, die sich „Marx 21“ nennt und innerhalb der Partei Die Linke aktiv ist. Die Antifa ist genauso betroffen wie die Kurdistan-Solidarität. Man mag zu deren Positionen stehen, wie man will, aber im Grundgesetz heißt es: Niemand, also auch Mitglieder der genannten Parteien und Gruppen, darf wegen seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt werden.
Die Innenministerkonferenz beschloss Mitte Juni, eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe einzusetzen, um zu prüfen, wie mit AfD-Mitgliedern im Staatsdienst umzugehen sei. 1972 war das Ergebnis einer ähnlichen Arbeitsgruppe der „Radikalenerlass“. Damals gab es noch keine AfD. Und die NPD hatte es nie bis in den Bundestag geschafft. Sind die Gefahren heute also nicht viel größer als 1972?
Ich sehe diese Gefahren von rechts auch, und wir haben seit Jahren davor gewarnt. Aber ein neuer Radikalenerlass ist die falsche Antwort. Da niemand wegen Mitgliedschaft in einer Organisation nach geltender Rechtsprechung aus dem Staatsdienst entlassen werden kann, könnten auch AfD-Leute nicht entlassen werden. Im Übrigen müssen diese Personen dem Staat nach dem Parteienprivileg keine Auskunft darüber geben, ob sie einer Partei angehören. Dennoch hätte der Staat Möglichkeiten zu reagieren, aber nur dann, wenn schwerwiegende Dienstvergehen vorliegen, wenn jemand aktiv gegen das Beamtenrecht, gegen Menschenrechte oder demokratische Grundrechte handelt. Dann kann ein Disziplinarverfahren eingeleitet werden.
Und wie soll der Staat bei Beamtenanwärtern verfahren?
Nach dem Allgemeinen Gleichstellungsgesetz darf niemand wegen seiner politischen Gesinnung oder sexuellen Orientierung benachteiligt werden. Außerdem würde ein neuer Radikalenerlass noch gegen einen weiteren Paragrafen des Grundgesetzes verstoßen. Danach muss jedem Deutschen „nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleicher Zugang zu jedem öffentlichen Amt“ gewährt werden. Das gilt auch für Vorbereitungsdienste, zum Beispiel die Referendariate bei Lehrern. Das war schon in den 1970er-Jahren so. Sonst hätte Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der damals einer maoistischen Partei angehört hatte, dem Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW), nicht Lehrer werden können. Und heute müssen sich junge Leute wieder mit ähnlichen Schikanen auseinandersetzen. Wie Lisa Pöttinger in Bayern, die wegen ihrer Klima-Proteste für die „Letzte Generation“ das Referendariat nicht antreten darf und gegen diesen Beschluss jetzt klagen muss.
Gibt es aktuell weitere Fälle?
In Bayern, wo der Fragenkatalog zu „extremistischen“ Organisationen schon lange gilt, gibt es mehrere Betroffene, aber auch in Hessen und Nordrhein-Westfalen. In Hamburg steht laut Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) die Wiedereinführung der Regelanfrage bevor. In Niedersachsen kündigte die SPD-Innenministerin Daniela Behrens an, „schon im Einstellungsverfahren einen Fragebogen zu Mitgliedschaften und Unterstützungen für extremistische und extremistisch beeinflusste Organisationen einzuführen“. Ähnlich in Bremen. Aber ein AfD-Mitglied wie der frühere Lehrer Björn Höcke, der laut Gerichtsurteil als „Faschist“ bezeichnet werden darf, ist weiterhin Beamter.
Wie beurteilen Sie die Rolle des Verfassungsschutzes bei dieser Auseinandersetzung?
Im Zuge des Radikalenerlasses von 1972 wurde zeitweise für alle Beamtenanwärter, aber teilweise auch für Tarifangestellte bis hin zu Reinigungskräften und wissenschaftlichen Hilfskräften bei den Verfassungsschutzämtern eine sogenannte Regelanfrage gestellt. Dabei waren diese Ämter damals immer noch mit Alt-Nazis durchsetzt. Und später haben Verfassungsschützer sogar ihre schützende Hand über die Leute des NSU gehalten, wie zahlreiche parlamentarische Untersuchungsausschüsse nachgewiesen haben. Deswegen verstehe ich nicht, warum ausgerechnet die Sozialdemokraten und die Grünen in Baden-Württemberg jetzt dem Verfassungsschutz die Deutungshoheit über die Frage überlassen wollen, wer Verfassungsfeind ist und wer nicht. Der Verfassungsschutz ist ein Geheimdienst, der der Regierung untersteht. Er ist kein Gericht.
Die Gewerkschaften haben in den 1970er-Jahren selbst eine Art Radikalenerlass eingeführt, die sogenannten Unvereinbarkeitsbeschlüsse. Danach war die Mitgliedschaft in Parteien, die sich etwa auf den Maoismus beriefen, unvereinbar mit der in einer Gewerkschaft. Die Leute wurden deshalb häufig ausgeschlossen. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat sich von dieser Praxis distanziert, sich bei den Betroffenen entschuldigt. Wie stehen Sie dazu?
In meiner Gewerkschaft, bei Verdi, gibt es diese Unvereinbarkeitsbeschlüsse nicht mehr. Ich habe mich selbst beim vergangenen Gewerkschaftstag dafür eingesetzt, dass wir diese Geschichte ernsthaft aufarbeiten.
Bei Gewerkschaften wie der IG Metall gelten die Unvereinbarkeitsbeschlüsse weiter, sie gelten allerdings nicht für AfD-Mitglieder.
Ein Ausschluss von AfD-Mitgliedern wäre der falsche Weg. Nur wenn jemand aktiv gewerkschaftsschädigend tätig ist, kann ein Ausschluss beantragt werden. Ich bin aber der Meinung, dass die AfD verboten werden sollte. Deshalb gehöre ich zu den Initiatoren des Freiburger Appells, der dies fordert.
Dabei hatten Sie das Verbot der Kommunistischen Partei Deutschland (KPD) durch das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1956 immer kritisiert. Es war das einzige Verbot einer kommunistischen Partei in einem europäischen Land mit zwei Ausnahmen: Spanien und Portugal, zwei damals faschistisch regierte Staaten.
Gegen die 1968 gegründete DKP gab es nie ein Verbotsverfahren. Darin sehe ich ein gewisses Eingeständnis des Staates, dass das Verbot der KPD falsch war.
Sie selbst haben ein Berufsverbot erhalten, weil Sie für die DKP tätig waren. Auch Ihr damaliger Genosse, der Realschullehrer Hans Schäfer, wurde deswegen aus dem Staatsdienst entlassen. Später trat er der SPD bei. Winfried Kretschmann, der wegen seiner Aktivitäten für den KBW zeitweise nicht als Lehrer unterrichten durfte, ging zu den Grünen. Die ebenfalls in einer maoistischen Partei engagierte Susanne Wetterich, auch ein Opfer des Radikalenerlasses in Stuttgart, hat es 2021 über die CDU-Liste kurzfristig bis in den Bundestag geschafft. Und Klaus Lipps, Ihr Vorgänger als Sprecher der Initiative gegen Berufsverbote, hat, nachdem er nach vielen Prozessen endlich verbeamtet worden war, sein DKP-Parteibuch zurückgegeben. Er ist seitdem parteilos (Kontext berichtete hier und hier). Wann sind Sie aus der DKP ausgetreten?
Ich bin nie formell ausgetreten, auch wenn ich die Partei schon lange nicht mehr wähle. Ich habe wegen der Ukraine-Politik der DKP meinen Beitrag zurückgehalten, weil die Partei nicht klipp und klar erklärt hat, dass der Angriff Russlands ein Verstoß gegen das Völkerrecht ist. In Prozentzahlen ausgedrückt beziehen sich meine politischen Aktivitäten aber zu 90 Prozent auf die Gewerkschaftsarbeit. Ich mache außerdem bei der Linken Liste in Freiburg mit, beim „Bündnis Freiburg gegen Rechts“ und bin inzwischen einer der Sprecher der Initiative gegen Berufsverbote.
Aber ein Austritt aus der DKP kommt für Sie nicht infrage?
Wir Betroffenen von Berufsverboten sind vielleicht ein Fall für Psychotherapeuten. Auch nach 50 Jahren ist man noch auf der Schiene, etwas nur deshalb nicht machen zu wollen, weil es der Staat verlangt, oder weil es zum Mainstream gehört. Ich habe schon oft damit gerechnet, aus der DKP rauszufliegen – schon, weil ich dazu aufgerufen habe, Die Linke zu wählen. Das gilt als Unterstützung des politischen Gegners. Für mich ist das aber heute nicht die entscheidende Frage. Mir geht es um den drohenden Radikalenerlass 2.0. Den müssen wir verhindern. Denn wer jetzt ernsthaft denkt, mit dem Schleifen rechtsstaatlicher Standards sollen in erster Linie Neonazis aus dem Öffentlichen Dienst ferngehalten werden, der irrt.
ist mit Irmgard Cipa Sprecher des „Bundesarbeitsausschusses der Initiativen gegen Berufsverbote und für die Verteidigung der demokratischen Grundrechte“. Der Freiburger wurde 1984 als der „rote Briefträger“ bekannt. Die Bundespost hatte den damaligen Beamten auf Probe entlassen, weil er sich für die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) engagierte hatte. 1991 konnte Werner Siebler die Post in einem Gerichtsverfahren dazu zwingen, ihn wieder als Briefträger zu beschäftigen, allerdings nur als Angestellten. Siebler ist seit vielen Jahren bei der Gewerkschaft Verdi aktiv und Stadtverbandsvorsitzender des DGB Freiburg. (hab)
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