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GesellschaftDer Dissident

Wer Putins Regime kritisiert, muss staatliche Gewalt fürchten. Deshalb lebt der russische Mathematiker, Gewerkschafter und Sozialist Michail Lobanow in Paris im Exil. Vergangene Woche war er auf Einladung der Linkspartei in Konstanz.

Er nennt sich „Marxist und Mathematiker“: Michail Lobanow in Konstanz. Foto: Jens Volle

Von Korbinian Strohhuber

Als zuletzt im September 2021 die Duma, das russische Parlament, gewählt wurde, nutzten der linke Michail Lobanow und sein Team einen Telegram-Kanal, um dort ihre Anhängerschaft auf dem Laufenden zu halten. Immer wieder teilen sie den neuesten Stand der Auszählungen mit. Lobanow trat als parteiloser Kandidat in Moskau für die Kommunistische Partei (KPRF) an. Sein Konkurrent: Fernsehmoderator Jewgeni Popow von der Putin-Partei „Einiges Russland“. Als die abgegebenen Wahlzettel ausgezählt wurden, lag Lobanow klar vorne. Nur ein gigantischer Betrug bei der elektronischen Stimmabgabe könne den Rückstand ausgleichen, schrieb sein Team auf dem Messengerdienst Telegram. Diese Befürchtung war, wie sich später herausstellt, gerechtfertigt: Popow gewinnt, Lobanow verliert – zumindest offiziell. Lobanow ist sich sicher, er habe die Wahl eigentlich gewonnen. Das E-Voting-Verfahren wurde schon vor der Wahl als Einfallstor für Manipulation kritisiert, Wahlbeobachter:innen der russischen Organisation „Golos“ berichteten im Nachgang von Wahlfälschung. Laut dem offiziellen Endergebnis lag Lobanow drei Prozentpunkte hinter seinem Mitbewerber. Ohne E-Voting hätte er allerdings mit 39 Prozent zu 29 Prozent klar vorne gelegen.

Am 29. Dezember 2022 teilt Lobanows Team ein Foto im Telegram-Kanal. Es zeigt eine feuchte Stelle auf einem grauen Teppich vor einem grünen Sofa. Das Überbleibsel eines Blutflecks in Lobanows Wohnung, wie der Begleittext erläutert. Am frühen Morgen drang die Polizei in seine Wohnung ein, riss dabei die Tür aus der Angel, schlug und verhaftete den linken Russen. Noch am selben Abend wurde er zu einer 15-tägigen Gefängnisstrafe verurteilt. Er hätte sich polizeilichen Anordnungen widersetzt, begründete das Gericht seine Entscheidung.

Es sind Repressionen wie diese, die Putins Regime nutzt, um Oppositionelle – sowie kritische Journalist:innen – kleinzuhalten. Davon berichten Lobanow und eine Handvoll Weggefährten vergangenen Freitag in Konstanz. Die Linkspartei hat den Russen, einst war er Mathematikdozent an der Universität Moskau, in die Stadt am Bodensee eingeladen, um über die Gesellschaft und die Rolle der politischen Linken in dessen Heimatland zu sprechen. Der Vortrag verzögert sich um eine knappe halbe Stunde. Gut drei Dutzend Interessierte sind gekommen, offenbar mehr als erwartet, weshalb die Veranstaltenden zuerst noch eine „Mauer einreißen“ mussten: modulare Trennwände zum benachbarten Raum. Unter den Zuhörer:innen sind viele junge Menschen der Linksjugend.

Währenddessen sitzt Lobanow, der kein Deutsch versteht, an einem Tisch und bereitet seine Präsentation vor, neben ihm sein Weggefährte Vitaly Zemlyanksy, der Lobanow beim Wahlkampf als Analyst zur Seite stand. Es sei seine erste Rede auf Englisch, die nicht Mathematik behandele, sagt der 40-Jährige zu Beginn. Und er stellt klar: Er sei kein Experte für alles, was Russland betreffe, aber er wisse einiges.

Wollen die Russ:innen Krieg?

So ist er überzeugt, dass der Krieg in der Ukraine nicht beliebt sei in der russischen Gesellschaft, ebenso Putin selbst. Weniger als zehn Prozent der Russ:innen hätten laut Lobanow den Krieg zu Beginn begrüßt, und davon seien inzwischen auch viele demoralisiert. Kriegsbefürworter seien überwiegend ältere Menschen über 50, während jüngere und vor allem Frauen eher gegen die Invasion seien. Andererseits würden viele nicht wollen, dass ihr Land den Krieg verliert – auch wenn sie ihn für falsch hielten.

„Meinst du, die Russen wollen Krieg?“, lautet der Titel eines Anti-Kriegsliedes der DDR. Heute ist diese Frage angesichts des Ukrainekrieges ein spannender Fall für die Meinungsforschung. Denn wie die russische Bevölkerung wirklich denkt über den Krieg, der nach wie vor als „militärische Spezialoperation“ bezeichnet wird, ist nur schwer nachzuvollziehen. In autoritär geführten Staaten ist es üblich, dass Befragte in Umfragen die Antworten liefern, von denen sie glauben, dass sie vom Regime erwartet werden. Laut einem „Spiegel“-Bericht habe der Soziologe Lew Gudkow vom einzigen unabhängigen Meinungsforschungsinstitut Lewada herausgefunden, dass etwa 44 Prozent der Russ:innen den Krieg befürworten. Der Zusammenschluss unabhängiger Soziolog:innen „ExtremeScan“ spricht von 46 Prozent im Februar 2024, vor allem finanziell Schwächere würden den Krieg eher ablehnen.

Einige Russ:innen vertreten die Meinung, dass der Westen unter Führung der Vereinigten Staaten den Krieg provoziert hat. Die Nato und die Vereinigten Staaten seien zwar für viele Kriege und für die Destabilisierung der Welt verantwortlich, sagt Lobanow. Aber: Für den Krieg in der Ukraine gebe es nur einen Verantwortlichen, nämlich Putin und dessen Regime. Insofern ist diese Veranstaltung für sich schon außergewöhnlich – schließlich wird die Linkspartei oft verdächtigt, sehr russlandfreundlich zu sein.

Lobanow ist überzeugt, dass Putin den Krieg braucht und ein Frieden ihm gefährlich werden könnte. In Russland herrschten viele soziale Probleme, Ungleichheit und niedrige Löhne. Das gefährde Putins Macht im Frieden. Nun, da Krieg herrscht, könnten diese Probleme hintenangestellt werden – stattdessen werden patriotische Werte gefördert und Zusammenhalt propagiert. Wer quertreibt, muss Repressionen fürchten. Zugleich mache sich Putin die finanziell schlechte Situation junger Russen zu eigen, indem er sie mit hohem Sold an die Front lockt.

Dass es um die arbeitenden Bevölkerung Russlands nicht gut bestellt ist, liegt Lobanows Schilderungen zufolge auch an den Gewerkschaften. Es sei einer der Hauptunterschiede zu westeuropäischen Ländern, dass diese in Russland sehr schwach sind – Streiks seien eine Seltenheit. Das habe seinen Ursprung in der Sowjetunion, als alle sozialen Organisationen – und somit die Gewerkschaften – in staatlicher Hand waren. Sie blieben in der Russischen Föderation erhalten und seien eng an Putin gebunden und somit „keine echten Gewerkschaften“, sagt Lobanow.

Der Weg zum Frieden: Revolution

Da der Krieg Putins Macht sichert, glaubt Lobanow, dass dieser sogar bereit wäre, einen Krieg mit weiteren Ländern vom Zaun zu brechen. Selbst wenn der Ukrainekrieg beendet werden würde, einen langfristigen Frieden garantiere Lobanow zufolge nur eines: die (soziale) Revolution. Innerhalb der nächsten Jahre würden die Linken die sichtbarste und stärkste politische Kraft im Land sein, meint er. Russland sei mehrheitlich nicht konservativ, es gebe viele demokratische Länder, in denen die Gesellschaft konservativer sei. Zwei Drittel der Russ:innen würden sogar eine geplante Wirtschaft einer Marktwirtschaft bevorzugen, behauptet Lobanow. Damit sei keine Rückkehr zur Sowjetunion gemeint, vielmehr eine „Demokratisierung der Wirtschaft“.

Wie genau diese Revolution vonstatten gehen soll, lässt Lobanow offen. Klar ist, dass er auf stärkere Gewerkschaften hofft und auf Aktivist:innen vertraut. Nur: Letztere müssen derzeit im Untergrund agieren, viele sind auch im Ausland. Lobanow selbst hat das Land vor über einem Jahr verlassen, nachdem er im Sommer 2023 seine Stelle an der Moskauer Universität verloren hat. Ihm werde vorgeworfen, Mitglied einer anarchistischen Organisation zu sein und den Anschlag auf ein Gebäude des FSB in Archangelsk gutzuheißen. Würde er nach Russland einreisen, würden ihm mehrere Jahre Haft drohen, sagt Lobanow.

Momentan lebt und arbeitet der Dissident in Paris. Er lernt Französisch und hofft, bald eine Lehrstelle an der Universität zu bekommen. Derzeit lebt er von einem Stipendium der Uni. Die Zeit im Ausland nutzt er, um Kontakte zu Gewerkschaften und Parteien zu knüpfen. Diese würden, so hofft er, nach der vorhergesagten Revolution bestehen bleiben und von Vorteil für künftige Zusammenarbeit sein. Die Linken in Konstanz hat er jedenfalls überzeugt: Sie skandieren: „Hoch die internationale Solidarität!“

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