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GesellschaftEin väterlicher Freund

Edzard Reuter war ein besonderer Mensch. Gradlinig, aufrecht, mutig, ehrlich. Ein Großbürger, der ein gemeinnütziges Medium von Anfang an unterstützt hat. Aus gutem Grund. Ein persönlicher Nachruf.

Edzard Reuter hat gesagt, die Demokratie müsse mit Zähnen und Klauen gegen die braunen Rattenfänger verteidigt werden. Fotos: Joachim E. Röttgers

Von Josef-Otto Freudenreich

Einen Nachruf auf Edzard Reuter schreiben. Das macht traurig und Angst. Wie soll man einem Leben gerecht werden, das 96 Jahre umfasst? Viele davon auf einem schmalen Grat. Ein Absturz ist jederzeit möglich. Geboren 1928, SPD-Familie in Nazi-Deutschland, türkisches Exil (1935 bis 1946), sein Vater Regierender Bürgermeister in Berlin (1948 bis 1953), er selbst Vorstandsvorsitzender von Daimler-Benz (1987 bis 1995), danach Kapitalismuskritiker mit mehreren Büchern, Ehrenbürger von Berlin. Das sind die nüchternen Daten. Aber was ist, wenn man den Mann mochte?

Wenn man nachts um zehn in der Notaufnahme des Stuttgarter Marienhospitals steht, und am Ende eines langen Ganges der väterliche Freund auf einer Transportliege wartet? Er ist zuhause gestürzt. Er hat Glück, nichts ist gebrochen, er bekommt ein Zimmer für die Nacht, am nächsten Tag wird er entlassen. Er versucht ein Lächeln und gibt das Versprechen mit auf den Weg, in die Redaktion zu kommen, sobald es gehe, mit schönen Grüßen. Präsent, klaglos und voller Würde.

Es ist Montag, der 21. Oktober 2024. Am darauf folgenden Sonntag ist Edzard Reuter tot. Multiples Organversagen. Wie es dazu kam, ist noch ungeklärt.

Der gescheiterte Visionär darf nicht fehlen

Edzard Reuter war wichtig. In den Zeitungen wird er gewürdigt werden, gewiss als einer der letzten Intellektuellen unter deutschen Managern, wobei zwei Zuschreibungen nicht fehlen dürfen, beide verbunden mit seiner Zeit als Daimler-Chef. Erstens sei er der „größte Kapitalvernichter“ gewesen und zweitens mit seinem „Integrierten Technologiekonzern“ grandios gescheitert. Mit schwingt dabei der Verdacht, dass das bei „Visionären“ nicht unüblich ist, wenn der Arzt nicht rechtzeitig eingreift.

Nun ist beides relativ, weil solche Rankinglisten stark konjunkturbedingt sind, und abhängig von der persönlichen Performance. Man denke nur an Reuters Nachfolger bei Daimler Jürgen Schrempp, den Hochzeiter im Himmel, bei dem die herabregnenden roten Rosen auch kein Dauerphänomen waren. Und was den High-Tech-Konzern anbelangt, wären manche heute vielleicht froh, sie hätten‘s gewagt, weil Luxusautos allein keine Überlebensgarantie sind.

Aber überlassen wir diese Debatte anderen.

Edzard Reuter war ein Medienkritiker, deswegen war er wichtig für Kontext und umgekehrt. Er mochte die schnelle Schlagzeile nicht, die Sau, die jeden Tag neu durchs Dorf getrieben wird. Er misstraute den marktradikalen Thesen von Leitartiklern, dem Demokratiegedöns von Chefredakteuren und ihren Verlegern, die in Wahrheit nur eines im Sinn haben: den tendenziellen Wiederanstieg der Profitrate.

Für ihn konsequent, dass er von Beginn an bei Kontext dabei war, als Beiratsvorsitzender und nicht als Verleger, wie ihn Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert glaubte sehen zu müssen. Diese Spezies, entgegnete Reuter, sei ihm nicht geheuer, er wolle nicht mit jemanden in einen Topf geworfen werden, der „Journalismus mit Gelddrucken verwechselt“.

Ihm lag daran, ein Medium zu unterstützen, das ein Beleg dafür ist, „wie sehr eine lebendige Demokratie von der Begleitung durch lebendigen und unabhängigen Journalismus abhängig ist“. Aus demselben Grund saß er im Kuratorium der Reportageschule an der VHS Reutlingen.

Für Kontext war Reuter auch wichtig, weil er eine Botschaft nach draußen trug, die voller Zuversicht war. Wer hätte darauf gewettet, schrieb er zum Zehnjährigen, dass ein „so verrücktes Projekt“ auch nur die ersten Ausgaben überstehen würde? Aber das Wunder ist zur „allwöchentlichen Realität“ geworden, fährt er fort, zum Nutzen derjenigen, die sich nicht hinter die Fichte führen lassen wollten, und zur eigenen Freude, wenn ihm wieder etwas gefallen hat. Fabelhaft, Meisterwerk, weiter so, mailte er dann in die Redaktion, und manchmal haben wir gedacht, er sollte mehr spenden statt loben. Es sei denn, er säße wieder einmal bei Markus Lanz, würde Kontext preisen und die Gier der Manager geißeln. Dann wäre alles gut.

Aber das sind Gedanken, die man nicht mitnimmt, wenn er zum Plauderstündchen in sein Haus in Schönberg lädt. Kein Protz, ein Bungalow, Sichtbeton, viel Glas, kleiner Swimmingpool. Am Gartentor holt er seinen Gast ab, schaut um die Ecke, ob da wieder der popelige Smart parkt, in der Haustür steht seine Ehefrau Helga Reuter und lacht, wenn das Hemd zur Hose raushängt. Ihrem Mann würde sie das nicht durchgehen lassen. Erzählt wird im Wohnzimmer bei Tee und Keksen, früher noch mit Zigaretten. Der „Has Been“, wie er sich nennt, fragt, hört zu, rät zur Toleranz gegenüber Andersdenkenden, Mut zur Wahrheit, Solidarität mit den Schwachen. Für einen Großbürger durchaus ungewöhnliche Ansichten.

Reuter sagt, S 21 sei ein Verbrechen an der Demokratie

Wenn dann das Gespräch bei Stuttgart 21 landet, wird‘s auch für Reuter schwer. Aus seinem alten Laden Daimler stammen die DB-Chefs Mehdorn und Grube. Das Projekt, als Symbol für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands hochgejazzt, wird durchgezogen, buchstäblich um jeden Preis, verantwortungslos verantwortet von der Politik, auch von seiner SPD, hochgeschrieben von der Presse im Land, besonders wirkmächtig von der in Stuttgart ansässigen. Und der Sozialdemokrat Reuter befindet, dass hier das Volk systematisch belogen wurde, mit dem Ergebnis, dass S 21 zum „Musterbeispiel“ dafür wurde, wie man Glaubwürdigkeit verspielen und ein „Verbrechen an der Demokratie“ verüben kann. Das Kontext-Interview hierzu, im Mai 2020 geführt, ist heute noch aktuell, lediglich die Projektkosten müssen nach oben korrigiert werden.

Im Bücherregal hinter ihm ist ein schmales Bändchen quergestellt. „Empört euch“ von Stéphane Hessel. Ein Aufruf an junge Menschen, sich einzumischen. Reuter hat mit Hessel eine gemeinsame Veranstaltung in Paris gemacht und sein eigenes, vorletztes Buch im Hesselschen Sinn beendet: „Ein demokratisches Gemeinwesen ohne Einmischung: Undenkbar!“ Die bei Klöpfer & Meyer verlegte, 2015 erschienene Schrift mit dem Titel „Eingemischt!“ kann als Vermächtnis eines älteren Herrn gelesen werden, dem das Leben gelehrt hat, dass es eines Kampfes „mit Zähnen und Klauen“ bedarf, um diese Demokratie zu verteidigen.

Das Buch beginnt mit dem Kapitel „Wehret den Anfängen!“. Reuter sagt, nicht das Jahr 1933, die Machtergreifung der Nazis, sei schicksalshaft für die Weimarer Republik gewesen, sondern 1930, die Wahl zum Reichstag. Die NSDAP ist da von drei auf knapp 19 Prozent explodiert, einer der ihren ist Fritz Roeder, der Vater von Helga Reuter.

Der Kontorist aus Bad Kissingen ist berauscht von dem Ergebnis, zieht als Offizier der Wehrmacht für Hitler in den Krieg und hofft, in diesem „herrlichen Deutschen Reich“ noch lange arbeiten zu können. Am 11. August 1941 stirbt er bei einem Angriff auf ein russisches Dorf, nachdem er „in heldenmütiger Weise“ dem Zuge voran gestürmt war, wie der Kommandeur der Witwe mitteilt. Sie gibt per Zeitungsanzeige bekannt, ihr Mann habe sein Leben „für Führer, Volk und Vaterland“ geopfert. Für den Sozialdemokraten Ernst Reuter hält das „Tausendjährige Reich“ das KZ Lichtenburg bereit, in dem er 1933 und 1934 zweimal für mehrere Monate inhaftiert ist und schwer misshandelt wird. Anfang 1935 flieht die Familie in die Türkei.

Gelebtes Miteinander, 2006: Arachne, die führende Domina in Stuttgart, mit Reuter im Literaturhaus.

In der Traueranzeige soll stehen: Edzard Reuter ist tot

Edzard Reuter weiß also, wovon er spricht, wenn er das Kapitel mit einer eindringlichen Mahnung schließt: „Nie wieder? Halsstarrig rate ich dazu, den Anfängen zu wehren – und besonders denjenigen Anfängen, die uns braune Rattenfänger als Abkehr von vermeintlichen Irrwegen und als Wiederherstellung einer idyllischen Vergangenheit schon wieder anbieten …“

Auch deshalb hat er Kontext unterstützt. Gegen rechts und solche finsteren Gestalten wie den Neonazi, der für zwei Abgeordnete der AfD im Stuttgarter Landtag gearbeitet hat und seit Jahren gegen Kontext prozessiert. Im Gegenzug fragt er an, ob der Schwäbisch Gmünder Oberbürgermeister Richard Arnold (CDU) preiswürdig ist. Mit der Helga und Edzard Reuter-Stiftung, inzwischen geleitet von der früheren baden-württembergischen Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU), will er das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher ethnischer, kultureller und religiöser Herkunft fördern. In Kontext hatte er darüber gelesen und erfahren, dass Arnold ein prima Projekt namens „Pfiff“ zur Integration von Geflüchteten aufgesetzt hat. Im November 2018 wird Arnold der Preis der Stiftung verliehen, zur Ehrung hält Kontext-Autorin Susanne Stiefel die Laudatio.

Sie ist auch im Marienhospital dabei. Wir sollten jetzt gehen, sagt Edzard Reuter und versucht wieder ein Lächeln, Kontext rufe. In seinem Testament verfügt er, kein Bohei um seine Person zu veranstalten und in die Traueranzeige schlicht reinzuschreiben: Edzard Reuter ist tot.

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