Gesellschaft: Weil sie lieben, wie sie lieben
Auf offener Straße beleidigt, bespuckt, angegriffen: Der Alltag von queeren Menschen ist allzu oft von Angst bestimmt und die Gewaltnimmt zu. Bei der Polizei finden Betroffene nicht immer Zuflucht, dafür bei den Beratungsstellen der Leuchtlinie.
Ein Schlag und die Worte: „Dir reiß‘ ich die Haare aus.“ Paul fällt zu Boden. Stille, Schwärze. Als er wieder zu sich kommt, liegt er immer noch da: auf einem Parkplatz in Fellbach, zittert am ganzen Körper. Er schreit, wird ihm später der Freund erzählen, der mit schmerzendem Ohr neben ihm liegt.
Was so schön begonnen hatte, sollte für die beiden schrecklich enden: der Stuttgarter CSD 2022. Am Ende werden sie Teil einer Statistik, die in den letzten Jahren Hunderte von Gewalttaten erfasst hat, die gegen queere Menschen gerichtet waren. „Von 2018 bis 2021 verdreifachten sich die Zahlen“, schreibt der deutsche Lesben- und Schwulenverband (LSVD). Gab es laut Bundesinnenministerium 2018 noch 351 Fälle von queerfeindlicher Hasskriminalität, waren es 2022 bereits 1.051. Die Angriffe reichen von Beleidigungen über Volksverhetzung bis hin zu Gewaltdelikten.
Einige Wochen waren vergangen, erzählt Paul, dann habe er die Leuchtlinie angeschrieben: eine Beratungsstelle für Betroffene von rechter Gewalt. „Die Leute wollen, dass ihnen richtig zugehört wird und dass gewürdigt wird, dass es eine politische Tat war“, sagt Jochen Kramer von Leuchtlinie. Zur Beratung gehören juristische Unterstützung, Rechtsanwält:innen finden, Anträge an Förderfonds schreiben, psychologische Betreuung organisieren, das Umfeld – oft mitbetroffen – einbeziehen. 2022 beriet Leuchtlinie 256 Menschen.
Einen deutlichen Anstieg queerfeindlicher Gewalt beobachtet auch die Leuchtlinie, meint Kramer. Besonders erschreckend sei, dass es sich im vergangenen Jahr in allen Fällen um massive Körperverletzung handelte. Der bundesweite Verband der Opferberatungsstellen registrierte 2022 ganze 177 queerfeindliche Angriffe, mehr als doppelt so viele wie 2021.
Die Angst als ständiger Begleiter
Paul sitzt auf einem knallgelben Sessel bei der Leuchtlinie in Stuttgart. Mittlerweile ist es eineinhalb Jahre her, dass er hier seine erste Beratungssitzung hatte. Der Fall des damals 17-Jährigen und seines Kumpels landete vor Gericht, die Täter:innen, ein deutsches Ehepaar – er damals 45 Jahre alt, sie 36 – kamen mit einer einjährigen beziehungsweise achtmonatigen Bewährungsstrafe und jeweils 1.000 Euro Schmerzensgeld davon. Paul wandte sich als Zeuge in einem persönlichen Plädoyer direkt an die Täter:innen: „Ich habe das Gefühl, Sie haben überhaupt kein Bewusstsein für das, was Sie uns an diesem Abend getan haben. Sie haben mir ein Jahr meines unbeschwerten Lebens als Teenager genommen. Ein Jahr, das so schön hätte sein können. Ein Jahr voller Freude, ein Jahr voller Freiheit, ein Jahr in jugendlicher Naivität. Stattdessen hatte ich ein Jahr voller Panikattacken, voller Angst und voller Termine bei Psycholog:innen, Beratungsstellen und Hilfsangeboten.“
Die Angst war von da an sein ständiger Begleiter, erzählt Paul. Wenn ein Auto hinter ihm fuhr, dachte er: „Überfährt der mich jetzt?“ Die Angst, den Täter:innen zu begegnen, vor glatzköpfigen Männern mit Bart, vor kleinen Frauen mit langen dunklen Haaren. Die Angst in der Bahn, im Bus, auf öffentlichen Plätzen.
Vielen Täter:innen sei gar nicht bewusst, was sie mit ihrer Tat anrichten, sagt Kramer, wie viel jahrelange psychische Arbeit die Betroffenen nach einem Angriff, der oft wenige Minuten dauert, leisten müssten. Viele litten unter Konzentrationsschwierigkeiten, trauten sich nicht mehr, ihre Wohnung zu verlassen.
Hand in Hand über die Königstraße
Erst seit 1990 stuft die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Homosexualität nicht mehr als psychische Krankheit ein. In Deutschland legitimierte der Homosexuellen-Paragraph 175 die Verfolgung von schwulen und bisexuellen Männern und wurde erst 1994 vollständig aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Doch der Hass gegen die LSBTTIQ-Community besteht bis heute mit teils zunehmender Tendenz. Einerseits bekämen queere Themen mehr Aufmerksamkeit etwa durch CSDs auch in kleineren Städten wie Esslingen, Reutlingen oder Herrenberg, meint Kramer. Andererseits trauen sich Betroffene eher, Vorfälle zu melden. Zwar haben geschlechtliche und sexuelle Vorurteile in den vergangenen 20 Jahren abgenommen, doch politische Ereignisse und Gegenbewegungen der jüngeren Zeit hätten deutlich gemacht, „wie kontrovers, reaktionär und auch feindselig auf Zugewinne an Rechten und Freiheiten für Frauen, Homosexuelle und Trans*-Menschen hin diskutiert und reagiert wird“, schreibt die Friedrich-Ebert-Stiftung in ihrer aktuellen Mitte-Studie. Dort äußern 16 Prozent der Befragten Ekel, „wenn Homosexuelle sich in der Öffentlichkeit küssen“. Vor zwei Jahren waren es nur halb so viele.
Polizeiliche Ermittlungen oft unzureichend
„Momentan trauen sich queere Menschen nicht unbedingt, Hand in Hand über die Königstraße zu laufen“, sagt Detlef Raasch, Vorstandsmitglied der Interessengemeinschaft CSD Stuttgart. Auch er wird beschimpft als „Oberschwuchtel vom CSD“, bekommt Drohbriefe. Der 60-Jährige denkt sich dann schulterzuckend: „Ach leck mich am Arsch!“ In den letzten zwei Jahren sei die Queerfeindlichkeit bei CSDs angestiegen, berichtet er. Im September 2022 bezahlte der transgeschlechtliche Malte C. beim Christopher Street Day in Münster mit seinem Leben, als er bei einem queerfeindlich motivierten Angriff eingegriffen hatte.
Bad Wurzach, August 2023: Ein Transmann erzählt, er sei am frühen Abend durch das Bad Wurzacher Stadtzentrum gelaufen, als ihm zwei Männer aus einer Bar transfeindliche Beleidigungen nachriefen. Einer sei ihm gefolgt, habe den Hitlergruß gezeigt und „Sieg Heil“ geschrien. Als der Verfolgte versuchte, die Polizei zu rufen, wurde er attackiert, gewürgt und geschlagen. Während der Täter weiter auf ihn eintrat, kam ein Passant, wollte wissen, was los sei. In dem Moment gelang es dem Zusammengeschlagenen, die Polizei zu rufen. Obwohl diese dank eines Handyfotos die Angreifer identifizieren konnte, wurden sie bis heute nicht festgenommen. Der Fall landete bei der Leuchtlinie in Freiburg.
„Wir erleben alles: von super Unterstützung durch die Polizei bis hin zu Beschwerden über Racial Profiling und rassistischer Polizeigewalt“, sagt Kramer von der Beratungsstelle. Das sei mit ein Grund, warum die Dunkelziffer im Bereich der queerfeindlichen Gewalt so hoch ist: Auf 80 bis 90 Prozent schätzt sie der Verband lesbischer und schwuler Polizeibediensteter (VelsPol). Um in die Statistik aufgenommen zu werden, bedarf es einer Strafanzeige. VelsPol unterstützt Betroffene beim Gang zur Polizei und arbeitet daran, die eigenen Kolleg:innen für das Thema zu sensibilisieren. Laut Lesben- und Schwulenverband ist das bitter nötig: Nicht alle Betroffenen, die zur Polizei gehen, würden in die Statistik der queerfeindlichen Hasskriminalität aufgenommen. Die Ermittlungen seien oft unzureichend.
Kusshand für den Mittelfinger
Von schlechten Erfahrungen mit der Polizei berichtet auch Marie-Luisa Quolke. Die transgeschlechtliche Frau lebte 61 Jahre lang mit einem Geheimnis. „Es gab bloß zwei Möglichkeiten für mich: Freitod oder Outing“, sagt die heute 64-Jährige. Im April 2021 habe sie sich für den Freitod entscheiden. Alles sei für den Suizid vorbereitet gewesen, erzählt sie, doch dann habe ihr Handy geklingelt: die Tochter. „Hallo Papa, du wirst Opa“, verkündete diese die frohe Botschaft. Quolke erwiderte: „Nein, Oma.“ Ein Jahr später folgte die geschlechtsangleichende Operation.
Heute ist Quolke sehr aktiv auf Social Media, nimmt ihre Follower:innen mit durch ihren Tag oder gibt Schminktipps. Am 9. Dezember 2023 zeigt sie ihren Fans in einem Livestream, dass sie sich bei einer Veranstaltung in Birkenfeld befinde. Ihren Standort würde sie heute nicht mehr so blauäugig teilen. Als sie am späten Abend die Veranstaltung verlässt, lauern ihr zwei Männer auf, einer schubst sie von hinten, sie fällt auf die Knie, versucht wieder hochzukommen und wird mit einem wuchtigen Tritt in den Rücken nochmals zu Boden gestoßen. Das Nächste, an das sie sich erinnern kann, ist, wie sie blutverschmiert und mit Zahnlücke aufgesammelt und medizinisch versorgt wird.
„Die Polizei hat es so dargestellt, als hätte ich es mir ausgedacht“, sagt sie empört und zeigt ein Foto von ihrem zertrümmerten Gesicht nach dem Angriff.
Wie akut die Bedrohung sein kann, war Quolke bis zu diesem Tag nicht bewusst. Auf ihren Social-Media-Kanälen habe es immer wieder Wellen von Hasskommentaren gegeben. Dort standen Dinge wie, „dass man mich aufhängen und abstechen will, man sollte mich vergasen“, erzählt sie. Doch nach dem Vorfall im Dezember habe sich etwas verändert, die Angst sei plötzlich da. Aus Pforzheim will sie mit ihrer Familie wegziehen, „da fühl ich mich nicht mehr sicher“. Sobald es dunkel ist, gehe sie nicht mehr alleine raus.
Bei Paul hat die Angst nachgelassen, sagt er, immer seltener komme sie zurück. Er traut sich mittlerweile, seine Fingernägel zu lackieren, auch wenn er sicherheitshalber meist Handschuhe dabei hat. Wird er auf der Straße beleidigt, reagiert er meistens nicht darauf, eine konstruktive Debatte sei ohnehin nicht möglich. Doch manchmal fühlt er sich sicher genug und erwidert: „Was ist das Problem?“ . Zeigt ihm jemand den Mittelfinger, wirft er eine Kusshand zurück. Die Leuchtlinie habe ihm geholfen, diese Leichtigkeit wiederzugewinnen.
Gemeinsam für freie Presse
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen