Gesellschaft: Geschichte für die Zukunft
Nie wieder 1933! Bei Demos in ganz Deutschland ist dieser Appell auf Pappschildern zu lesen. Doch was genau geschah damals in der Weimarer Republik? Wie gelang den Nationalsozialisten die Zerstörung der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland? Und warum erkannten zu wenige Menschen die Gefahren?

Von Sabine Hebbelmann
Wirklich aus der Geschichte lernen kann nur, wer sich mit diesen Fragen auseinandersetzt, ist Andrea Hoffend überzeugt. Dies hat die aus Mannheim stammende promovierte Zeithistorikerin selbst intensiv getan. Sie macht klar: „Der Gang in die Diktatur war weder unausweichlich noch schicksalhaft. Vielmehr wurde er aus der politischen Mitte heraus fahrlässig mit herbeigeführt.“
Umso wichtiger ist es ihr, die Aktivposten mit in den Blick zu nehmen, die vor 1933 den Aufstieg der NSDAP auf Straßen, in Redaktionsstuben, Parlamenten und Ministerien bekämpften und die später Widerstand gegen das sich etablierende Regime leisteten. „Sie nämlich sind es, die uns für die heutige Zeit Orientierung bieten“, betont die Historikerin.
2012 gründete sie in Karlsruhe den Verein Lernort Zivilcourage mit. „Ziviles Widerstehen gegen rechts“ schrieben sich die drei Dutzend Gründer:innen, darunter vier Landtagsabgeordnete, ebenso auf die Fahne wie innovative Konzepte und Gegenwartsbezug.
Eines der ersten KZs war in Baden-Württemberg
Eines ihrer ersten Konzentrationslager errichteten die Nationalsozialisten im Frühjahr 1933 auf dem Gelände des ehemaligen Schloss Kislau an der Bahnstrecke zwischen Heidelberg und Karlsruhe – heute eine Außenstelle der JVA Bruchsal. Unter den insgesamt mehr als 1.500 KZ-Häftlingen waren viele Vertreter der organisierten Arbeiterschaft und aktive Gegner des Nationalsozialismus. Der damalige badische Staatspräsident und langjährige Innenminister Adam Remmele (SPD) galt als Hauptfeind der badischen Nazis. Und der Mannheimer Stefan Heymann wurde als Kommunist jüdischer Herkunft und politischer Redakteur gleich nach der Machtübertragung an die Nazis interniert.
Nach Auflösung des zwischen Donaueschingen und Bad Dürrheim gelegenen KZs Ankenbuck im Frühjahr 1934 fungierte Kislau als einziges Konzentrationslager in ganz Baden. Auf dem Schlossgelände erinnert nur eine unscheinbare Steele an das dunkle Kapitel. Nach dem Willen des Vereins, der sich längst in Lernort Kislau umbenannt hatte, soll sich das ändern. Seit nunmehr zwölf Jahren verfolgen die Aktiven auf dem Areal ein Bauvorhaben und bemühen sich um die Finanzierung. Ziel ist ein neuartiger Lernort, an dem kreative Formen der Geschichtsvermittlung eng mit einem Gegenwartsdialog verzahnt werden.
In der Zwischenzeit hat Andrea Hoffend viel inhaltliche und konzeptuelle Arbeit geleistet und führt nebenbei auch die Vereinsgeschäfte. Die wissenschaftliche Leiterin wird dabei von zwei weiteren hauptamtlichen Historikerinnen unterstützt. Die Wanderausstellung „Auftakt des Terrors – Frühe Konzentrationslager im Nationalsozialismus“ hat der Verein mit anderen Einrichtungen bundesweit erarbeitet.
Etwas Besonderes ist das „Mobile Geschichtslabor“, das die Historikerin auch als „aufsuchende Geschichtsarbeit“ bezeichnet. Schulklassenweise lernen Jugendliche die Geschichte des KZ samt ausgewählter Insassen kennen und setzen sich an den verschiedenen Stationen aktiv mit Fragen von Demokratie und Rechtsstaat auseinander.
Unter dem Motto „Fakten oder Propaganda?“ ist eine Station in Form eines Kiosks gestaltet. Eine ganze Zeitungsseite ist zu sehen, welche lobend die demütigende ‚Schaufahrt‘ von Remmele und sechs weiteren angesehenen SPD-Politikern von Karlsruhe ins KZ Kislau am 16. Mai 1933 beschreibt und beschönigende Beschreibungen des Konzentrationslagers enthält. Hinter der Nazi-Propaganda finden sich Erläuterungen zur Einordnung und auf der Rückseite des „Kiosks“ Gegenpropaganda aus dem Exil und erschütternde Berichte aus der Haft.
Direkt daneben geht es um heutige Fake News. Fünf sogenannte Fake-Detektoren, Rahmen mit unterschiedlichen Ausschnitten und kurzen Erklärungen, lassen sich über eine Text-Kollage legen. So wird die Aufmerksamkeit auf bestimmte Elemente gelenkt. Wird ein:e Verfasser:in angegeben, ist die Quelle glaubhaft, hat die Website ein Impressum?
„Das hier ist eine Art Autoritarismus-Detektor“, erläutert Andrea Hoffend bei einer Führung in der alten Fabrik in Leimen-St.Ilgen, wo das Geschichtslabor kürzlich zu Gast war. Was sind Kriterien, an denen man merkt, ob jemand eher autoritätshörig oder eben auch autoritär drauf ist? Verbreitete Einstellungen lassen sich per Schieber auf einer Skala von demokratisch bis antidemokratisch bewerten – eine Station, die sowohl zur Selbstreflexion als auch zu Diskussionen einlädt.
Zu sehen sind auch drei der 13 animierten und vertonten Bildergeschichten, Motion Comics genannt, die das Team entwickelt hat. In rund vier Minuten werden regionale Ereignisse der Jahre 1918 bis 1945 aus der Perspektive von Protagonist:innen des badischen Widerstands aufbereitet. Alle Motion Comics finden sich auf dem Geschichtsportal und dem YouTube-Kanal des Projekts. Lehrer:innen können hier auch Arbeitsblätter herunterladen.
Das Geschichtsportal soll demnächst einen neuen Namen und ein Upgrade bekommen. Dann sollen die Motions Comics auch mit einem Quiz verbunden sein.
Das „Labor“ kann von Städten der Region angefragt werden. „Mit unserem kleinen Team können wir nur Hilfe zur Selbsthilfe geben“, wirbt Andrea Hoffend für Verständnis. Die Kooperationspartner bekommen an den jeweiligen Ort angepasste Vorlagen, mit denen sie selbst Werbung machen und Bevölkerung, Schulen und Vereine zum Mitmachen einladen. Das klappt an den verschiedenen Standorten unterschiedlich gut, merkt sie an.
Angst vor der aktuellen politischen Situation
Sehr gut sind die Bedingungen in Offenburg. Hier macht das Mobile Geschichtslabor noch bis zum 5. Mai Station. Jugendliche können sich zu Guides ausbilden lassen und andere Jugendliche durch die Ausstellung führen. Und während die Schulen Sommerferien haben, wandert das Geschichtslabor ins Regierungspräsidium Karlsruhe, wo es für alle öffentlich zugänglich sein wird. Denn die Macherinnen haben festgestellt: Das Labor funktioniert auch sehr gut für Erwachsene.
Der eigentliche „Lernort“ Kislau bleibt eine Herausforderung für den kleinen Verein mit seinen rund hundert Mitgliedern. Das Land ist bereit, eine Dreiviertelmillion für das geplante Bauvorhaben beim Schloss zur Verfügung zu stellen. „Das ist zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben“, bemerkt Andrea Hoffend und nennt als Bedarf rund zwei Millionen Euro.
Die Finanzierung läuft über die Landeszentrale für politische Bildung, die direkt beim Landtag angesiedelt ist. Was es schwierig macht: Die vier demokratischen Landtagsfraktionen entscheiden gemeinsam über den Landtagsetat.
Andrea Hoffend sagt: „Was einen gruseln kann: Dass sich plötzlich Leute öffnen, die sich vorher nicht geöffnet haben, zeigt, wie stark schon alle Angst haben vor der jetzigen politischen Situation.“ Und sie stellt fest: Die Forderung, dass die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte der Festigung der Demokratie dienen muss, wird nicht länger als Alarmismus abgetan.
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