Geschönte Statistik: Tricksereien mit Langzeitarbeitslosen
Die SPD erklärt die Agenda 2010 für wirkungsam: Offiziell sinkt die Zahl der Langzeitarbeitslosen. Tatsächlich haben sie aber oft keinen Job, sondern fallen aus der Statistik heraus.
BERLIN taz Es sieht wie ein Erfolg aus: Die offizielle Zahl der Langzeitarbeitslosen sinkt rasant. 2006 gab es 1,676 Millionen Langzeitarbeitslose, jetzt im Oktober waren es noch 995.000, wie der neueste Arbeitsmarktbericht ausweist. Ebenfalls auffällig: Die Zahl der Langzeitarbeitslosen nimmt inzwischen sogar schneller ab als die allgemeine Arbeitslosigkeit - obwohl Langzeitarbeitslose als besonders schwer vermittelbar gelten. Wie lassen sich diese überraschenden Phänomene erklären?
Für die Sozialdemokraten ist eindeutig: Die Agenda 2010 wirkt. Selbst SPD-Linke verteidigen die Schröder-Reformen. So erklärte Sozialexperte Karl Lauterbach in einem taz-Interview, dass es "direkt mit dem Ausbau des Niedriglohnsektors" zu tun habe, wenn 500.000 Langzeitarbeitslose einen Job gefunden hätten. "Insofern sind die Hartz-Reformen linke Reformen."
Aber wie belastbar sind die offiziellen Statistiken? Die Bundesagentur für Arbeit betrachtet die eigenen Daten mit Skepsis: "Mit den Zahlen über die Langzeitarbeitslosen kann man kaum etwas anfangen." Denn die Definition ist nur scheinbar klar: Als langzeitarbeitslos gilt jeder, der länger als 12 Monate keinen Job von mindestens 15 Wochenstunden hatte. Doch dann wird es kompliziert: Kaum wird die Arbeitslosigkeit für mehr als sechs Wochen unterbrochen, startet die Zählung wieder bei null.
Ein Beispiel: Ein Hartz-IV-Empfänger ist 24 Monate ohne Stelle, also langzeitarbeitslos. Dann erhält er drei Monate einen 1-Euro-Job. Hinterher ist er zwar wieder arbeitslos - aber eben nicht mehr langzeitarbeitslos. Gleiches gilt auch für Trainings- und Qualifizierungsmaßnahmen sowie für Krankheiten, die länger als sechs Wochen dauern. So wird aus einem echten Langzeitarbeitslosen ein statistischer Kurzzeitarbeitsloser.
Dabei fallen drei Phänomene an der Statistik besonders auf. Erstens: Nicht alle Ex-Arbeitslose verschwinden in den Beruf, wie die monatliche Abgangsstatistik der Bundesagentur belegt. Im Oktober fanden 272.117 Arbeitslose eine neue Stelle. Aber fast genauso viele, nämlich 237.543 Menschen, haben die Arbeitslosenstatistik verlassen, ohne hinterher einen Job zu haben. Sie wurden in die "Nichterwerbstätigkeit" entlassen. Darunter gelten 145.541 als arbeitsunfähig. Das ist ein Plus von 11,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Aber eine Epidemie ist nicht ausgebrochen. "Wir haben unser IT-System umgestellt", heißt es beim IAB, dem Forschungsinstitut der Bundesagentur. "Jetzt werden die Krankheitszeiten gründlicher erfasst."
Zweitens: Manchmal wird aus der Arbeitsunfähigkeit auch ein permanenter Zustand. 2007 stieg die Zahl der Erwerbsunfähigen, die Grundsicherung bekommen, um etwa 31.000 Menschen, wie das Statistische Bundesamt am Freitag bekannt gab. Sie fallen aus der Arbeitslosenstatistik heraus und werden in die Grundsicherung umgebucht. Drittens: Es ist eine Frage der Interpretation, wer als arbeitslos gilt. Wer etwa Angehörige pflegen muss, erhält zwar weiter Hartz IV, gilt aber nicht als arbeitslos. Wie groß dabei die Deutungshoheit ist, zeigt ein Ländervergleich, den das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung angestellt hat: Im Oktober waren in Hamburg nur noch 37,4 Prozent der Hartz-IV-Empfänger arbeitslos; in Nordrhein-Westfalen hingegen sind es 47,5 Prozent. Offenbar sind die Jobcenter in Hamburg großzügig, wenn es gilt, Hartz-IV-Empfänger aus der Arbeitslosenstatistik zu entfernen.
Beim IAB hält man es für "etwas kurzschlüssig" zu glauben, dass weniger Langzeitarbeitslose bedeutet, dass die meisten von ihnen einen Job gefunden hätten.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Macrons Krisengipfel
Und Trump lacht sich eins
Krisentreffen nach Sicherheitskonferenz
Macron sortiert seine Truppen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
USA und Russland besetzen ihre Botschaften wieder regulär
Maßnahmenkatalog vor der Bundestagswahl
Grünen-Spitze will „Bildungswende“
Bundestagswahl für Deutsche im Ausland
Wenn der Wahlbrief nicht ankommt
Gentrifizierung in Großstädten
Meckern auf hohem Niveau