: Geschlechtstiere
Eigentlich trifft sie den Buchhändler immer nur in seinem Laden. Zum Kaffeetrinken und Stöbern. Doch heute wird sie mit ihrer Freundin bei ihm schlafen. Er wohnt näher am Bahnhof, und die beiden wollen den ersten Zug nicht verpassen
von CORNELIA KURTH
Sie starrte die Bücher an. Viele hundert Bücher auch hier, in einem zurechtgezimmerten Regal, das den kleinen Flur noch enger machte. Der Flur, in dem sie nur mit Unterhose und T-Shirt bekleidet stehenblieb. Weil sie nicht wusste, wohin sie gehen sollte.
Ins Kinderzimmer? Wo heute nicht seine Kinder schliefen, sondern Marie, in einem der Etagenbetten. Oder vorwärts, zum anderen Ende dieses Flures? Da war das Schlafzimmer, seins und das von Sabine, aber die war verreist.
Sie war verwirrt und überhitzt von dem langen Küssen im Wohnzimmer, in dem es langsam immer dunkler geworden war, während sie zu dritt Musik hörten, Marie allein in einem der Sessel zusammengesunken. Nur nicht an Marie denken.
Vielleicht würden sie einfach weiterküssen, wenn sie in dieses Schlafzimmer ginge, dessen Tür noch verschlossen war. Sie würde ihn küssen und ihren Kopf an seine breite Brust legen und in seinen Armen einschlafen. Noch putzt er sich mit lautem Gurgeln die Zähne. „Und wenn er mit mir schlafen will?“ Nein, das kann nicht sein.
Aber sie haben sich geküsst, und das konnte doch auch nicht sein. Er hat seine Hand unter ihr T-Shirt geschoben und ihre Brust gestreichelt. Während Marie, die ja nicht fliehen konnte, in ihrem Sessel fast ganz verschwand und ein Klavierkonzert lief.
Seine Lieblingsmusik, hatte er gesagt, und ihre Hand zwischen seine Beine gelegt, wo sie sein Geschlecht spürte, groß und pochend, und ohne sich so richtig vorstellen zu können, wie dieses große, pochende Geschlecht wohl in der Hose liegt, wo eigentlich oben ist und wo unten.
„Geschlecht“, ein gutes Wort, und so viel leichter zu denken als Schwanz oder Penis oder Pimmel: Geschlecht. Großartig. Nicht zu vergleichen mit dem, was sie bei Andi berührt hatte – klein, weich und niedlich und nur ein bisschen zuckend unter der Berührung, ein ängstliches Tierchen, das man nicht erschrecken will.
Klirren im Badezimmer, Rasierergebrumm, gleich kommt er raus und sie wird wissen, was passieren soll. Hastig nimmt sie ein Buch aus dem überfüllten Regal, damit sie so tun könnte, als stünde sie überhaupt nur hier im Flur, um einen Blick in die Bücher zu werfen und ein letztes Gespräch über Literatur zu beginnen, bevor er vielleicht sagen würde: „O, du stehst hier? Das Kinderzimmer ist doch auf der anderen Seite.“
Ohne auch nur ein Wort zu erfassen, flirren ihre Augen über eine Buchseite. Die Badezimmertür geht auf. Sie sieht nicht hoch, sie liest. „Ausgerechnet!“, sagt er, über ihre Schulter gebeugt, als stünden sie in seinem kleinen Buchladen, wo er so oft interessiert über ihre Schulter auf ein Buch guckt. „Wusstest du, dass es mein Lieblingsbuch ist?“ Sie schüttelt den Kopf, sie lehnt sich an ihn. Er riecht gut. Er ist nackt. Er sagt: „Du liegst ja noch gar nicht im Bett.“ – „In welchem Bett soll ich denn liegen?“, fragt sie heiser und stellt dabei das Buch sorgfältig zurück zu den anderen, damit klar ist: Sie hat ja gerade noch gelesen und sich über so nebensächliche Dinge wie das Bett, in dem sie schlafen würde, keine großen Gedanken gemacht.
Er geht voraus, groß und nackt. Schön. Er öffnet die Tür zum Schlafzimmer. Sie folgt ihm. Schwaches Licht einer Straßenlaterne dringt durch die Vorhänge, zwei Betten stehen in dem kargen Raum, das eine unter dem Fenster, das andere quer dazu. Er schlägt die Decke des Fensterbettes zurück, legt sich hin, hält die Decke hoch: „Komm!“ Sie zögert.
Zieht sie jetzt das T-Shirt aus oder lässt sie es an? Vielleicht schläft er ja immer nackt und seine Nacktheit hat gar nichts zu bedeuten, weil er sich auch heute Nacht so benimmt, wie er es immer tut, und nicht extra ihretwegen einen Schlafanzug angezogen hat, und wenn sie jetzt ihr T-Shirt auszieht, obwohl sie es doch vorher als Nachthemd angezogen hatte, dann sieht es so aus, als wolle sie mit ihm schlafen, obwohl sie gar nicht weiß, ob er es will. Und gar nicht weiß, was sie will.
„Nun zieh schon dein T-Shirt aus, es wird ja sonst viel zu warm im Bett“, sagt er. Lacht leise. Sie zieht es also aus, sehr langsam, denn plötzlich fällt ihr ein, dass sie ihre älteste Unterhose anhat. Heute Morgen gab es nur noch diese, weil alle anderen schon tief im Rucksack verpackt waren. Für die Reise mit Marie, weit weg, mit dem frühen Zug.
„Na komm!“, sagt er, und endlich also liegt sie neben ihm und ist sofort überwältigt. Von seinem Geruch und von der Hitze, die sein Körper auf ihren Körper überträgt und von der breiten Männerbrust – wie dünn, spittelig war Andi dagegen gewesen –, sie vergräbt ihr Gesicht an dieser männlichen Brust, in der ein Herz wild schlägt und schlingt ihre Arme um ihn, und auch er hat sie so umschlungen, dass sie sich endlich und ohne jeden Zweifel tief mit ihm verbunden fühlt.
Und sie fühlt an ihrem Bauch sein Geschlecht, zwischen ihren Körpern, wie einen Dritten im Bunde. Schlafen. Träumen.
Aber sie schlafen ja nicht. O nein! Sie beißt ihn in den Hals. Tollkühn. Er stöhnt. Sie beißt ihn sofort noch einmal, erregt und aufgeregt, hat ja sein Geschlecht längst im Dämmer der von draußen hereinleuchtenden Straßenlaterne angesehen und angefasst und es für äußerst schön befunden, kein Vergleich zu Andis dünnem, sanft sich kringelnden Tierchen, nein, klar und aufrecht steht es und so stark, dass sie es kaum mit einer Hand umfassen kann.
Es leistet männlichen Widerstand, wenn sie es drückt, und wenn sie seine samtige Spitze küsst, schmeckt es süß und sauer zugleich. „Ja – komm!“
Er kam nicht. Dieser Dritte im Bunde, das Geschlecht, es kam nicht zu ihr. Sie spürte, dass es vor ihrer so erwartungsvollen Mitte wie eine biegsame Weidenrute hin und her durchbog und sich schließlich, geschlagen, zurückzog.
Sie begriff erst nicht. Hob sich ihm immer noch entgegen und seufzte noch, in vorauseilender Erschütterung. „Hast du schon mal mit jemandem geschlafen?“, fragt er, neben ihr liegend. „Nein“, sagt sie schuldbewusst. „Nur gestreichelt habe ich schon jemanden.“
„Erzähl“, bittet er, mit dieser warmen Neugier, die er auch sonst für die Geschichten aus ihrem Leben und dem ihrer Freunde zeigt, wenn sie sich in seinem kleinen Buchladen treffen, wo sie Kaffee trinken, in Rohrsesseln Bücher lesen, die sie nicht kaufen müssen, und oft den ganzen Nachmittag einfach so da sind.
Seine Neugier, die er durch wenige bedeutsame Fragen und die stille Art seines Zuhörens beweist, die hatte sie zu ihm hingezogen, mit einer eigenartig schmerzlichen Sehnsucht.
Als sie einmal nicht zu den Treffen im Buchladen kommen konnte, schrieb sie ihm ein Briefchen: „Ich vermisse dich.“
„Erzähl!“ Er nimmt ihre Hand und führt sie zurück an sein Geschlecht, das sich wieder regt, als sie es umfasst. Sie erzählt von den verküssten Nachmittagen mit Andi. Wie sie es geliebt hatte, ihn zu küssen, weil seine Lippen so weich waren und seine Zunge so süß. Wie Andi immer davon gesprochen hatte, dass er mit ihr schlafen will. Seine Worte, die wie eine melancholische Melodie das Küssen unterbrachen und ihre ebenfalls melancholische Gegenmelodie hervorlockten, die sang: Noch nicht, später, vielleicht, nicht jetzt, irgendwann.
Andi wollte so gerne, aber er wusste nicht, wie. Und manchmal hatten sie wie nebenbei die Reißverschlüsse ihrer Hosen runtergezogen, so dass er seine Hand über diese geheimnisvolle Öffnung legen konnte, und sie hielt sein Geschlechtstierchen sanft in ihrer Hand. Es waren schöne Nachmittage.
Und vielleicht hätten sie doch noch zusammen das Lieben entdeckt, wenn er ihr nicht eines Tages, als sie eines Nachmittags wieder auf dem Bett lagen und nicht miteinander geschlafen hatten, blass gestanden hätte, dass er bei Susanne übernachtet habe, zweimal, und sie, sie wolle ja nicht, und deshalb müsste nun alles aus sein.
Das Geschlecht steht schon längst wieder stark und aufrecht und pocht in ihrer Hand, die es kaum umfassen kann. Mit einem Aufstöhnen legt er sich auf sie, und sie öffnet ihre Beine weit, weit und stöhnt auch, als sie die Spitze im weichen Eingang spürt, und spürt, wie er sich anspannt. Die Luft anhält. Ausatmet. Ach.
Er, ein Mann, er muss doch wissen, wie es geht! Sie weiß nicht, ob sie ihn trösten müsste oder ob er sie trösten sollte oder ob es eben einfach so sein durfte und sollte und musste, wie es ist.
„Komisch, dass es nicht geht …“, sagt er. „Na ja, macht ja nichts …“
Nein, es machte ja nichts. Schweigend lagen sie eng umschlungen zusammen, die Augen fielen ihr zu, es war gut so, es war im Grunde gerade richtig so.
Bis er sich noch einmal aufrichtet und ihr noch einmal sein Geschlecht anbietet, das noch einmal zurückschreckt, wie vor einem Hindernis.
Da stand er auf, reichte ihr die Hand, dass auch sie aufstehen möge und zog sie durch den kleinen Flur mit den vielen Büchern in das Badezimmer.
Hell brannte das Neonlicht, mächtig stand nun das Geschlecht über dem Waschbecken. Er legte seine Hand über ihre Hand und beide Hände zusammen fassten diesen Dritten, der plötzlich zu einem Einzelnen wurde, ein Wesen, das ihr Händepaar auf- und abzog, immer schneller und heftiger, bis er mit seiner Hand zugleich auch ihre löste, um allein und mit einem Seufzen den Strahl einer weißen Flüssigkeit ins Becken zu lenken.
Das war ein Orgasmus.
Das ist der Samenerguss, der, kaum herausgeschossen, zusammen mit dem Wasser aus dem schnell geöffneten Wasserhahn im Ausguss verschwindet.
„So ist das also“, sagt er. Und lächelt. Sie weint fast. Es tut ihr so Leid! Sie weiß doch, dass es nicht so ist. „Geh nur schon zurück“, sagt er und haucht einen Kuss auf ihr zerstrubbeltes Haar.
Sie ging. Und hörte noch längere Zeit den Wasserhahn laufen. Sie zog die Bettdecke fest um ihren Körper, bis er kam und wieder genauso frisch nach Deo roch, wie am Beginn. „Es war doch schön“, sagte er. Und schlief ein, sein Kopf an ihrer Brust. Wenn er sich regte, dann spürte sie, dass sein Bart über Nacht gewachsen war.
CORNELIA KURTH, Jahrgang 1960, lebt als freie Journalistin in Rinteln und sucht einen Verlag für diese und andere Liebesgeschichten