: Geschichte mit Stalin und Klo
■ Die Deichtorhallen widmen Ilya Kabakov eine große Retrospektive
Drei schwarz gerahmte, fröhlich realistische Bilder russischen Lebens, teilweise zerstört und das Bilderglas am Boden, davor eine Absperrung: So anekdotisch gibt sich die Inszenierung Am 12. April in der Galerie. Doch die vorgeführte Geschichte muß nicht erraten werden, der aus Russland stammende Ilya Kabakov gibt zu allen Teilen seiner Retrospektive in der südlichen Deichtorhalle ausführliche Kommentare.
Hier wird berichtet, wie ein Künstler am Morgen nach der Vernissage seine Bilder zerstörte und ein zufällig anwesender Kritiker die Aufräumarbeiten stoppte, da er das ganze für eine gelungene Installation hielt. In diesem mehrseitigen Text literarisiert Ilya Kabakov die Theorie der „Totalen Installation“, der Kunstform, die er seit Jahren meisterhaft beherrscht.
Gleich nebenan sind die Bilderkisten noch nicht ausgepackt und die Farbeimer stehen herum: es ist die „unfertige Installation“, ein künstlerischer Widerspruch in sich selbst.
Wird üblicherweise eine Ausstellung erarbeitet und dann gezeigt, hier muß der Besucher sich selbst das Material erschließen. Dazu hat der 1933 geborene Ilya Kabakov die ganze Deichtorhalle in einen Lesesaal verwandelt (wir raten drum, viel Zeit mitzubringen). Vor schulraumgrünen Wänden stehen Stühle und Holztische, auf denen Übersetzungen der russischen Bildtexte und ausführlichen Interpretationen einsehbar sind. Mehr als 120 Bilder, Zeichnungen, Leporellos und Objektgruppen von 1956-1996 umfaßt die Retrospektive, doch durch die Gesamtinstallation ist nichts davon alt oder Selbstzitat, sondern alles Teil eines Werkes von heute.
Im Rahmen dieser Kunstbibliothek wird die sowjetische Bilderwelt demonstriert und ernst genommen, gerade weil sie nicht mehr diktatorisch verbindlich ist. Das geschieht nicht ethnologisch-dokumentarisch, wie es viele noch bei der Installation der „Toilette“ auf der documenta IX 1992 dachten, sondern poetisch-literarisch.
Ob Situationen aus der Gemeinschaftsküche „Komunalka“ oder das Zimmer des Postkartensammlers, die wortreich belehrenden Schautafeln oder der singende Mann auf dem Klo, Kabakovs Installationen sind weniger mythisch als die in der Deichtorhalle zuletzt gezeigten Käfige von Louise Bourgeois, aber im Umgang mit eigenem Erleben ähnlich. Die Installationen haben jenen Touch von biografischer Wahrheit, die die Objekte hinreichend authentisch, anders und interessant macht, ohne sie im Privaten verschwinden zu lassen.
Schon wie Kabakov das grausliche stalinistische Propagandabild „Geprüft“ interpretiert, ist einen Besuch wert: die Genossin als Maria, der Apparatschik als Opferpriester, die Parteisäuberung als sakrales Jahrhundertereignis. Hajo Schiff
Südliche Deichtorhalle, Eröffnung heute, bis 28. Juli
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