menschenrechte : Gerichtshof zu erfolgreich
Es gibt in Europa kein Musterland der Menschenrechte. Dies macht die Arbeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte deutlich. Auch im Jahr 2003 blieb kein großes europäisches Land ohne Verurteilung. Doch die jetzt vorgelegte Statistik muss mit Vorsicht gelesen werden. Spitzenreiter ist Jahr für Jahr Italien. Aber nicht, weil dort die Rechte der Bürger mehr mit Füßen getreten werden als anderswo, sondern weil dort die Justiz schlechter organisiert ist, die Prozessformalien umstrittener sind.
KOMMENTAR VON CHRISTIAN RATH
Dramatischer ist dagegen der zweite Platz der Türkei. Denn hier geht es sehr oft um erschreckende Vorwürfe: Folter auf Polizeiwachen, die Zerstörung kurdischer Dörfer durch das Militär. Doch die Schlussfolgerung, dass die Türkei offenbar für den EU-Beitritt noch nicht reif genug ist, wäre vorschnell. Denn die in Straßburg verhandelten Fälle liegen meist Jahre zurück und sagen nichts über die aktuelle Menschenrechtslage aus. Wichtiger ist, dass der türkische Staat zuletzt in gut einem Drittel der wichtigen Fälle mit den Klägern noch eine gütliche Einigung fand. Außerdem hat die derzeitige Regierung zugesichert, schärfer gegen die Übergriffe von Sicherheitsbeamten vorzugehen – die Straßburger Rechtsprechung scheint Früchte zu tragen.
Für Russland und andere osteuropäische Staaten kann dies noch nicht gesagt werden. Russland wurde im Vorjahr zwar nur selten verurteilt, und zu Aserbaidschan sowie Georgien gab es gar kein Urteil. Doch die Liste der anhängigen Verfahren spricht eine andere Sprache: Hier steht Russland schon seit Jahren an der Spitze.
Aber selbst darin liegt zumindest eine positive Nachricht: Der Straßburger Gerichtshof wird in Russland wahr- und angenommen. Umgekehrt bedeutet das auch eine große Verantwortung für die Mitgliedstaaten des Europarats. Dessen Rechtsschutzsystem, zu dem auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gehört, ist völlig überlastet. Fast ist er zu erfolgreich: Schon wird über Einschränkungen und neue Hürden diskutiert, um ihn arbeitsfähig zu halten.
Das ist jedoch nicht die richtige Antwort. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte braucht schlicht mehr Personal und Geld, um für jetzt rund 800 Millionen potenzielle Kläger überhaupt erreichbar zu bleiben. Mittel hierfür sind allemal preiswerter und sinnvoller, als die Menschenrechte später mit Interventionsarmeen und Blauhelmen schützen zu müssen.