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Georges Batailles berühmter Aufsatz über den großen Zeh als angebrachte WochenendlektüreSpontan noch zum Billard nach Treptow

AUSGEHEN UND RUMSTEHEN

von Detlef Kuhlbrodt

Eigentlich war das Wochenende anders geplant gewesen. Ich hatte mir zum Beispiel überlegt, in den „Tresor“ zu gehen, der sein 25-jähriges Jubiläum feierte. Dann war es jedoch eher anders. Es war Freitag, früher Nachmittag, und G. war vorbeigekommen. Wir hatten uns lange nicht gesehen, weil sie viel zu tun hat. Zum Beispiel in dem Café arbeiten und Sprachkurse geben. Außerdem arbeitet sie noch in diesem einen Projekt. Wir saßen am Tisch und erzählten uns von den Sachen, die in letzter Zeit passiert sind. Sie sagte, sie würde kein Gras mehr rauchen. Ich war ganz traurig, aber vielleicht hatte sie das auch nur aus Spaß gesagt. Mein Fuß tat weh. Ich stand auf, stöhnte lustig und machte alberne Grimassen, um ihr die Schmerzen zu verdeutlichen.

Eigentlich war es auch gar nicht der Fuß, sondern der große Zeh. Witzig dabei war, dass ich mir die Verletzung wohl schon am Dienstag beim Fußballspielen zugezogen hatte. Ich kann mich sogar noch an die Spielszene erinnern, weil es einen Einwurf für die anderen gegeben hatte. Den nächsten Tag hatte ich noch gearbeitet und Bücher einsortiert in der neuen Wohnung einer Kollegin, zehn Stunden lang.

Ab und an war ich mit dem Alphabet durcheinandergekommen, aber am Ende standen doch fast alle Bücher an ihrem richtigen Platz, und wir hatten Hähnchen vom Imbiss gegessen, und der Kollege hatte beim Essen immer zu seinem Laptop geguckt, in dem irgendwelche Tabellen waren und sich die Zahlen immer verändert hatten. Er hatte gesagt, er spekuliere mit Kursen und mir alles erklärt. Ich hatte nicht richtig zugehört, weil ich das ablehne. Vielleicht ist er ja auch Opfer irgendwelcher betrügerischer Machenschaften, hehe.

Ich zeigte G. also meinen geschwollenen Fuß, und wir einigten uns darauf, dass ich erst am Montag zum Arzt gehe; manchmal geht es ja auch wieder weg. Den Nachmittag am Schreibtisch. Ich dachte an Bommi Baumann, guckte alte Fotos, sah und las ein paar Interviews. Am Abend dann die Meldungen von dem Amoklauf in München. Gebannt saß man vor seinem Laptop. Nach einer Stunde begann ein Kollege schon über schlechte Berichterstattung des deutschen Fernsehens zu meckern. BBC und CNN würden viel besser berichten usw. Das klang ein bisschen so, wie wenn Leute sagen, ich guck ja nur Premier League oder spanische Liga, weil die Bundesliga so schlecht ist, oder Leute, die sich über KommentatorInnen beim Fußball beschweren, die man selbst gar nicht wahrnimmt.

Spontan dann doch zum Billard nach Treptow. Ein Jahr hatte ich wegen Gesundheit und Geld nicht mehr Billard gespielt. Anfangs ging es gar nicht; später dann besser. Es war sehr viel anders, in echt über den Anschlag zu reden als im Internet. Ganz kurz nur tauchte B. auf, ging aber gleich wieder wutentbrannt, weil ihm eine Laus über die Leber gelaufen war. Der Cyborg, der in Spanien wohnt, erzählte, dass man in Spanien zwei Marihuanapflanzen haben darf.

Es war schon eins, als ich dann ging. Leider verlor das Hinterrad des Fahrrads ständig Luft, sodass ich schieben musste. Ich guckte im Internet vor dem Zubettgehen und wachte am frühen Morgen wieder auf, weil der große Zeh total wehtat. Humpelte durch die Wohnung auf der Suche nach Schmerztabletten – zum Glück waren noch welche da. Dann war es zwölf, als ich aufstand.

Es schien plötzlich sehr still am Samstagmorgen. Diesig und warm. Sehr angenehm. Zu Netto humpeln, Sachen kaufen. Weggehen ist nicht. Backgammon im Internet. In der Länderwertung liegt Iran vor dem Irak und danach erst die USA. Ein Gegner sendet eine Nachricht „I’m in love with Hitler.“ Ich lese noch einmal den berühmten Aufsatz von Georges Bataille über den großen Zeh.

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