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Archiv-Artikel

Genug Benzin?

Vierzehn Acts kämpfen am Freitag in Kiel um ein Ticket zum Grand Prix Eurovision in Riga. Eine erste Verkostung des Jahrgangs 2003

von REINHARD KRAUSE

Sascha Pierro: Wenn Grenzen fallen. „Bin aufgestanden, hab lang geschlafen“, singt der junge Mann. Das kann er laut sagen. Dass Grenzen fallen, ist wahrlich schon lange her. Dass darüber Dutzende von Songcontestbeiträgen geschrieben wurden, auch. Schon blöd, wenn man das alles verpennt hat. Good Bye, Lenin … äh … Sascha!

Charlemaine: Life. Der erste heimliche Friedenssong des Abends, aber im Gewand einer frenetischen Lebenszugewandtheit, wie sie sonst eigentlich nur holländischen Grand-Prix-Beiträgen eignet. „Life’s a great thing! No need to fight, do love your brother.“ Die Dame wirkt optisch ein wenig giftig, aber der Song sagt: Die ist harmlos.

Der Junge mit der Gitarre: Die Seite, wo die Sonne scheint. „Heute pflücke ich ein paar Blumen und rette die Welt.“ Textzeilen wie diese konnte bisher nur Marlene Dietrich unbekichert singen. Und jetzt also DJMDG. Dieses implodierende Pathos muss ihm erst mal jemand nachmachen. Grundsympathisch. Aber warum schleppt der Junge mit der Gitarre nun auch den Vater mit dem Klavier auf die Bühne?

Lou: Let’s Get Happy. Etwas weiter im Refrain lässt Frau Lou die Katze aus dem Sack: „Let’s get happy – and let’s be gay!“ Herr Siegel, Komponist des Songs, schmeißt sich nach dem Erfolg von Sürpriz 1999 dieses Jahr einer anderen Randgruppe an den Hals, den „Gays“, also den Schwulen. Das macht ihn ja nicht unbedingt unsympathisch. So hektisch allerdings, wie er dafür kämpft, ein allerletztes Mal zu gewinnen, hört sich auch dieser Song an.

Elija: Somehow – Somewhere. An Peter Hahne nervte immer, dass er keine Silbe seiner Texte benachteiligen wollte und sie deshalb alle betonte. An Elija nervt dasselbe. Klingt wie eine aus gutem Grund vergessene B-Seite von Nik Kershaw. Kuschelrock wie ein Werbejingle zur Weihnachtszeit.

Beatbetrieb: Woran glaubst Du? Stramm überzeugte junge Christen aus dem Schwäbischen mimen die Skeptiker („Ich suche noch und finde nicht“) und mahnen Wachtturm-artig mit dem „Ende aller Zeiten“. Ob die modernistische Beatles-goes-Soul-Verpackung über die fundamentale Botschaft hinwegtäuschen kann?

Isgaard: Golden Key. Wozu soll ein goldener Schlüssel taugen? Isgaard ist noch so eine, die auf die Homokarte setzt. Und zwar mit einem Song, der wie von Andrew Lloyd Webber am Ende seiner Tage für Kate Bush geschrieben klingt – aber von Rondo Veneziano gespielt. Geh unter, du Husumerin, in deinem ganzen hässlich-süßen Gefiedel und Gejodel!

Vibe: Für immer. Warum klingt deutscher Soul immer so von oben herab gesungen? Warum sollte ein Einschlaflied einen Songwettbewerb gewinnen? Wo ist die Fernbedienung? Das sind lauter so Fragen, die einem bei diesem Hamburger Quartett einfallen.

Troje: Liebe macht Spaß. Auf einen Sieg sind die beiden Herren aus Polen und die junge Dame aus Berlin zum Glück gar nicht mehr angewiesen, weil sie für Polen schon das Ticket nach Riga in der Tasche haben. Ihr Lied für Deutschland klingt wie ein tumultuarisches Zusammentreffen von Hans Hartz und Alla Pugatschowa, von Jever und Wodka Gorbatschow. Kater garantiert. Aus Russland und Polen wären zwölf Punkte sicher. Mehr aber nicht.

Lovecrush: Love is Life. Nicht der erste Act des Abends, der auf Harmoniegesang à la Beatles setzt, wohl aber der einzige, der jugendliche Girliepower auszuströmen versucht. Lovecrush schafft das Wunder, dass man sich für einen Moment wehmütig an Bananarama (hmm) und Fuzzbox (na ja) erinnert.

Die Gerd Show: Alles wird gut. Der Song geht mächtig los, und das muss er auch, wenn man nicht die ganze Zeit denken will: Oje, jetzt macht Elmar Brandt wieder seine Kanzlernummer. Auf Kreuzbergs Straßen kommen einem inzwischen sechsjährige türkiche Jungs entgegen, die „Alles wird gut, gut, gut, gut!“ trällern. Diese Scheibe ist leider bereits jetzt ein Hit. Könnten wir uns bitte, wenn er denn schon gen Riga weitertingelt, vielleicht auf eine spanische Fassung einigen?

Senait: Herz aus Eis. Mehr Refrain war selten. Hoffen wir, dass die Feuerzeuge genug Benzin für drei Minuten Dauerbetrieb haben. Trotz der ganzen wohlfeilen Friedensbeschwörungen in diversen Konkurrenztiteln wirkt Senait in ihrer Interpretation eines Liebeslieds so ernst wie niemand sonst, der oder die in Kiel an den Start geht.

Freistil: Hörst du meine Lieder? Ja, aber nur ungern. Wie man eine flaue Ballade durch knetigen Gesang auch nicht besser macht, weiß man schon nach einer Minute auswendig. „Hörst du meine Lieder? Ich schick sie zum Himmel.“ Schick sie lieber zur Hölle.

Tagträumer feat. Aynur: Living in a Perfect World. Oh, es gibt doch noch längere Refrains! „Gewalt erzeugt Gewalt, das wissen wir doch hier schon lange in Deutschland.“ Man könnte auch sagen: Gerade wir hier in Deutschland. Und nun soll am deutschen Wesen mal wieder die ganze Welt genesen? „Lasst uns sagen, was wir fühlen, und wir fangen heute gleich damit an. Miteinander reden, uns erzählen, was so richtig tief in uns vorgeht.“ Ich bin klein, mein Herz ist rein, mein Name ist … Tagträumer. Mit freundlicher Unterstützung der Tageszeitung Hürriyet.