Genozid-Aufarbeitung in Ruanda: Mörder bleiben Nachbarn
Die juristische Aufarbeitung des Völkermords in Ruanda ist bald beendet - ein Erfolg der 12.000 Gacaca-Gerichte auf dem Land, sagt Dorfrichter Uwayezu
KIGALI taz | Es ist ein friedlicher Samstagmorgen in Nyanza, oben auf einem der tausend Hügel Ruandas nahe der Hauptstadt Kigali. Dieudonné Uwayezu schlurft in Gummistiefeln durch die schlammigen Straßen. Eben kommt der 36-Jährige von der Gemeindeversammlung. Auf seinem Nachhauseweg bleibt Uwayezu immer wieder stehen, grüßt die Nachbarn, tauscht Neuigkeiten mit dem Pfarrer aus und diskutiert mit der alten Frau, die in einer Wellblechbude Haushaltswaren, Bier und Eier verkauft.
Das Wort friedlich scheint noch immer nicht zu Ruanda zu passen, auch 16 Jahre nach dem Völkermord von 1994 nicht. Denn noch immer sitzt das Trauma tief, noch immer ist die Gesellschaft gespalten, das Misstrauen zwischen Hutu und Tutsi groß. So auch in Nyanza. Eben haben die Dorfvorsteher auf der Sitzung beschlossen: Jeder Einwohner muss sich neu registrieren lassen, jede Familie muss Besucher, die über Nacht bleiben, beim Dorfältesten anmelden. Fremden traut hier keiner: "Man weiß ja nie, was die 1994 getrieben haben", sagt Uwayezu. Nur in der eigenen Gemeinde fühle er sich sicher. Denn er kennt sie alle: die Massenmörder, die Mitläufer, die Überlebende der Massaker - Uwayezu hat all ihre Geständnisse gehört, all ihre Zeugenaussagen aufgenommen. Uwayezu ist Tutsi und einer der wenigen, die das Massenschlachten in Nyanza überlebten. Heute ist er der oberste Richter im lokalen Dorfgericht, dem Gacaca.
Gacaca bedeutet "Grasfeld" - die Wiese, auf welcher traditionell die Gemeinde zusammenkommt, um Streitigkeiten auszudiskutieren. In den letzten Jahren wurden auf Gacaca-Gerichten in Ruanda die Verbrechen von 1994 aufgearbeitet, als 800.000 Menschen, meist Tutsi, grausam ermordet wurden. In Nyanza brachten Hutu-Milizen in der Grundschule rund 2.500 Frauen und Kinder um, kurz nachdem die UNO-Blauhelme abgezogen waren und die Menschen, die in den Klassenzimmern Schutz gesucht hatten, ihrem Schicksal überlassen hatten.
Hutu und Tutsi: Die Begriffe bezeichnen keine Ethnien, sondern die sozialen Kategorien Viehzüchter (Tutsi) und Bauern (Hutu). Lange Zeit waren Tutsi politisch mächtiger. 1959 putschten Hutu-Revolutionäre und vertrieben viele Tutsi. Ruanda wurde unabhängig.
Völkermord: 1990 nahm die Tutsi-Exilguerilla RPF (Ruandische Patriotische Front) den bewaffneten Kampf auf. In einem Friedensvertrag sagte die Regierung 1993 eine Machtteilung zu. Hutu-Militärs, die das ablehnten, ergriffen am 7. April 1994 die Macht und begannen mit der planmäßigen Ausrottung aller Tutsi. Über 800.000 Menschen wurden getötet, bis die RPF im Juli Ruanda eroberte.
Ruanda heute: Die RPF regiert unter Präsident Paul Kagame. Reine Hutu- oder Tutsi-Parteien sowie "Genozidideologie" sind verboten. (dj)
Heute wachsen lila Blümchen auf den Massengräbern rund um die Schule. Die einst blutverschmierten Klassenzimmer wurden renoviert, die Wände frisch gestrichen. Nur ein Denkmal mit den eingravierten Namen der Opfer erinnert noch an das Massaker.
Doch die Vergangenheit lässt sich in Ruanda nicht so einfach ausblenden. In den wöchentlichen Gacaca-Prozessen wurden die Erinnerungen an den Völkermord zwangsläufig lebendig gehalten. Uwayezu sitzt auf einem Schemel vor seiner Lehmhütte und zieht Bilanz. Als einer der erster Richter in Ruanda hat er seine 660 Gacaca-Prozesse bereits abgewickelt. Es war nicht leicht, gibt er zu. "Doch ohne Gacaca wäre die Situation in Nyanza heute noch viel schwieriger. Wir können die Vergangenheit nun hinter uns lassen."
16 Jahre nach dem Genozid werden in Ruanda jetzt die Gacaca-Akten geschlossen. Damit neigt sich ein entscheidendes Kapitel in Ruandas Geschichte seinem Ende entgegen. Nur noch rund 1.000 Fälle befinden sich derzeit im Berufungsverfahren und werden im Laufe dieses Jahres abgewickelt.
Nach Bürgerkrieg und Völkermord musste das Land die Justiz von null aufbauen. Bis zum Jahr 2002 gab es immerhin rund 7.000 Prozesse. Währenddessen aber warteten bis zu 135.000 mutmaßliche Täter in den Gefängnissen auf ihre Verfahren. Das UN-Tribunal für Ruanda klagte zugleich lediglich 80 Hauptverantwortliche des Völkermords an. So war Gacaca eine pragmatische Lösung: Statt tausende Zeugen zu überforderten Gerichten in die Städte zu beordern, ging die Justiz aufs Land und ernannte Dorfrichter wie Uwayezu.
Die 12.000 Gacaca-Gerichte bewältigten die umfangreichste juristische Aufarbeitung, die die Welt je gesehen hat. Sie verhandelten über 1,2 Millionen Fälle und verurteilten über eine Million Täter. Diese mussten vor der versammelten Gemeinde ihre Taten gestehen und die Angehörigen ihrer Opfer um Vergebung bitten. Nur so erhielten sie Strafnachlass, um Sozialarbeit zu leisten, anstatt in einem der überfüllten Gefängnisse schmachten zu müssen.
Die Entlassenen sind in ihre Dörfer zurückgekehrt. So wohnen heute überall in Ruanda Tutsi-Überlebende Tür an Tür mit den Hutu-Mördern. Auch in Nyanza, berichtet Uwayezu. Der Gacaca-Richter musste die Mörder seiner Tante und ihres Babys richten. "Es war sehr schwer, neutral zu bleiben", seufzt er. Zehn Jahre Haft hatte er dem Mann aufgebrummt, doch jetzt ist er frei. Wie 60.000 andere Verurteilte auch, profitierte von einer der insgesamt drei Teilamnestien, die es in den vergangenen Jahren gab. Uwayezu zeigt die Straße hinunter: "Er lebt nicht weit von mir", sagt er.
Wenn Uwayezu heute wieder den Mördern begegnet, die er einst verurteilt hat, fühlt er noch immer deren "tiefen Hass im Herzen", wie er sagt. Auf die Frage nach Versöhnung verdreht er die Augen: "Wir haben viele Konflikte in unserer Gemeinde", gesteht er. Viele Hutu hätten noch immer Probleme, mit Tutsi zusammenzuleben. "Sie meiden unsere Hochzeiten und sie weigern sich, in der Kirche neben uns Tutsi zu sitzen." Doch immerhin: Sie können ihm nichts mehr anhaben. "Vor Gacaca hat die ganze Gemeinde ihre Aussagen angehört, jeder kennt die Wahrheit." Das gebe ein Gefühl der Sicherheit.
Die Wahrheit herauszufinden lautete "das erste Ziel von Gacaca", erklärt Denis Bikesha, einer der Direktoren der Gacaca-Kommission, die landesweit die Dorfgerichte koordiniert. Vor wenigen Wochen ist die Behörde in Kigali in kleinere Räumlichkeiten umgezogen. Zahlreiche Mitarbeiter wurden entlassen. Auch Bikesha sucht nun nach einem neuen Job, denn sobald die letzten Fälle verhandelt sind, wird die Gacaca-Kommission geschlossen.
Bis dahin arbeitet Bikesha an einem Abschlussbericht. "Wenn ich die Mission in Betracht ziehe, die Gacaca erfüllen sollte, kann ich guten Gewissens sagen: Wir haben sie erfüllt", nickt er. Ohne die Gacaca-Gerichte wären viele unbestraft davongekommen, ist er überzeugt. So aber habe das Land bewiesen, dass es seine Probleme selbst lösen könne.
Wenn in Zukunft Menschen in Ruanda des Völkermordes angeklagt werden, dann wird dies vor ordentlichen Gerichten geschehen. Die ruandischen Gerichte sind heute, dank internationaler Hilfe, im Vergleich zu anderen Justizsystemen in der Region gut ausgestattet. Sie verhandeln 45.000 Fälle pro Jahr. Doch praktisch fehlen trotzdem Kapazitäten. So sind Richter verpflichtet, mindestens 30 Fälle pro Monat anzuhören und mindestens 15 Urteile zu fällen. Doch Prozesse wegen Völkermord sind aufwändig.
Justizminister Tharcisse Karugarama ist dennoch stolz auf seine Bilanz. Der große Mann sitzt am Konferenztisch im Justizministerium, gegenüber dem Parlament, an dessen Fassade noch immer die Einschusslöcher vom Bürgerkrieg zu sehen sind. Er zeigt aus dem Fenster, wo auf dem Nachbargrundstück Baggerschaufeln im Sand graben. Hier entsteht eines der modernsten Konferenzzentren Afrikas. "Man muss sich doch nur umsehen", prahlt Karugarama: "Wir bauen unser Land wieder auf und haben seit 15 Jahren Frieden." Dazu habe Gacaca einen wichtigen Beitrag geleistet. "Ohne die Versöhnung in den Dörfern wäre die soziale Entwicklung nicht möglich gewesen."
Versöhnung ja, bestätigt Janvier Forongo, "doch auf wessen Kosten?" Der Leiter von Ibuka, eine Vereinigung überlebender Tutsi, hat sein Büro neben der Grundschule von Nyanza, um die Erinnerung aufrecht zu erhalten und die Interessen der Überlebenden zu vertreten. Denn es stürben noch immer Tutsi in Ruanda, berichtet Forongo. "Auch wegen Gacaca", sagt er und liest eine Statistik vor: Allein im Jahr 2009 wurden 24 Gacaca-Zeugen ermordet, alles Tutsi. 6 wurden angegriffen, 19 haben Briefe mit Todesdrohungen erhalten. Forongo hofft, dass mit dem Ende der Prozesse die Überlebenden ihren Frieden finden werden.
Diesen Frieden benötigen vor allem die Jungen - die Kinder der Opfer wie die Kinder der Täter. "Nicht die Generation unserer Väter, sondern wir können die Gesellschaft vereinen", sagt Celestin Ntawirema. Der 25-Jährige hat in Nyanza den Jugendclub "Never Again" gegründet, der mittlerweile für seine Tanzshows und Theaterstücke in Kigali bekannt ist. Celestin hat erkannt: "Wir Jugendlichen haben dieselben Probleme. Ob mein Vater 1994 ermordet wurde oder seitdem im Gefängnis sitzt - wir haben alle kein Geld für Schulbücher", sagt er.
Celestin hat selbst unzählige Gacaca-Prozesse besucht, denn seine ganze Familie wurde 1994 umgebracht. Doch er ist froh, dass diese Sitzungen nun vorbei sind. "Jetzt können wir am Sonntag endlich Fußball spielen", strahlt er. Richter Uwayezu trainiert nun die Fußballmannschaft von Nyanza. Wenn sein Team gegen das der Nachbargemeinde spielt, kommt fast das ganze Dorf zusammen. Hutu und Tutsi.
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