■ Genialer Schachzug oder fataler Strategiefehler?: Was kaum jemand mehr geglaubt hätte, ist mit der Entscheidung von Sachsen-Anhalt eingetreten: Die SPD fährt auch bundespolitisch auf der rot-grünen Schiene, trotz Bauchschmerzen der ...
Was kaum jemand mehr geglaubt hätte, ist mit der Entscheidung von Sachsen-Anhalt eingetreten: Die SPD fährt auch bundespolitisch auf der rot-grünen Schiene, trotz Bauchschmerzen der Grünen und „Volksfront“-Kampagne
Genialer Schachzug oder fataler Strategiefehler?
So kämpferisch wie in diesen Tagen hat man die SPD lange nicht erlebt: „Wenn wir den Wechsel in Bonn wollen, können wir uns nicht in Sachsen-Anhalt von Kohl in eine Große Koalition einsargen lassen und er nagelt den Deckel zu.“ Der das sagt ist Karlheinz Klär, Chef der rheinland-pfälzischen Staatskanzlei, einer der engsten Berater Rudolf Scharpings. Keinen Zweifel lassen die führenden Genossen in Bonn, daß das Projekt einer rot-grünen Minderheitsregierung in Magdeburg für die Bundespartei den Startschuß in die konfrontative Phase des Wahlkampfes bedeutet, daß ab jetzt alle Zweifel an der Wendeentschlossenheit der SPD, im Bund und anderswo, obsolet geworden sind. Was auf dem Parteitag in Halle ein bißchen ungläubig bestaunt und von den entwöhnten GenossInnen um so frenetischer gefeiert wurde – die neue Entschlossenheit des Rudolf Scharping – das soll nach dem Willen der „Baracke“ jetzt in Magdeburg seine demonstrative Fortsetzung finden: Große Koalition unter keinen Umständen — oder umgekehrt: Rot-Grün, selbst unter ungünstigsten Bedingungen.
Sage einer noch, Rudolf Scharping sei nicht für Überraschungen gut. Über ein halbes Jahr lang hat er keine Chance ausgelassen, alle rot-grünen Hoffnungen mit groß- koalitionärem Gestus abzubügeln, den gefürchteten Lagerwahlkampf zu umgehen, jede Festlegung auf die Reformkoalition mit den Bündnisgrünen als Wahlkampfschädigung zu brandmarken. Schien es bislang, als seien die Entscheidungen Scharpings gemäß dem Europawahlslogan „Sicherheit statt Angst“ determiniert, geht er in Magdeburg plötzlich volles Risiko. Ein ganz auf Berechenbarkeit setzender Politiker, den bislang niemand über den experimentellen Charakter rot-grüner Kooperation belehren mußte, springt über seinen Schatten. Hätte er seinem Parteifreund Reinhard Höppner — im Falle einer Mehrheit — die rot-grüne Koalition angeraten, es hätte angenehm überrascht. Daß er — dem die rheinland-pfälzischen Grünen seinerzeit, trotz Mehrheit, nicht koalitionsfähig erschienen — nun das rot-grüne Minderheitsprojekt favorisiert, das sich nach jeder Bewältigung koalitionsinterner Differenzen auf die Suche nach politischen Mehrheiten begeben wird, klingt schon ein bißchen abenteuerlich.
Was motivierte Scharping zu dieser Wende? Es müssen die schwindenden Chancen für den Bonner Machtwechsel gewesen sein, die ihn und seine Berater auf den Magdeburger Abenteuerparcours zwangen. Je pessimistischer die Prognosen ausfielen, desto klarer wurde allen Genossen, daß nur noch spektakuläre Signale die Trendwende bringen können. Doch die waren nicht in Sicht. Selbst das überaus positive Echo des Hallenser Parteitages drohte schon vier Tage später am Wahlabend von Magdeburg unter dem „Zwang zur Großen Koalition“ zu verhallen. Irgendwann an diesem Abend müssen die Spitzengenossen ihre Chance zur spektakulären Kampfansage an Kohl und zur Widerlegung des großkoalitionären Fatalismus begriffen haben. „Wir können auch anders“, lautete plötzlich die Parole einer Partei, der man ansonsten gern weiche Knie nachsagt.
Emotional waren die Genossen auf wagemutige Gesten ohnehin bestens eingestimmt: da hatten Kohls sozialliberale Statthalter in Sachsen-Anhalt gerade 14 Prozent verloren, die SPD hingegen satte acht Prozent gewonnen, und nur wegen des 0,4-Prozent- Vorsprungs gerierte sich die Union schon wieder als Wahlsieger. Und jetzt sollte der Unionsmann weiter amtieren dürfen – mit Unterstützung der eigentlich siegreichen SPD? Aus der Enttäuschung über diese offenkundige Ungerechtigkeit, aus der verbitterten Ablehnung, in einer Großen Koalition „dem Wählerwillen Hohn zu sprechen“ (Günter Verheugen) kam der Wagemut. Zugleich schien den Genossen mit einem Magdeburger Befreiungsschlag auch die wachsende Ratlosigkeit beendet, wie man noch einmal die Trendwende für die Bundestagswahlen schaffen könnte: „Heureka“.
Bei der SPD ist das Signal von Magdeburg voll eingeschlagen. Wer nachdenklichere Töne über das Magdeburger Experiment und seine bundespolitischen Folgen vernehmen will, muß sich bei den Bündnisgrünen umhören. „Wir waren einstimmig überrascht“ berichtet Bundesgeschäftsführerin Heide Rühle von der Bundesvorstandssitzung am Montag, wo das Magdeburger Projekt „nach ausführlicher Diskussion“ ohne Gegenstimmen unterstützt wurde. Doch es gibt, so Heide Rühle „große Bedenken“. Auch wenn es in Magdeburg nicht zu Tolerierungsverhandlungen mit der PDS kommen werde, sei bereits jetzt abzusehen, daß die PDS Reinhard Höppner unaufgefordert mitwählen werde. In der Öffentlichkeit werde so der Eindruck erweckt, die PDS unterstütze Rot-Grün. Einerseits müßten die Grünen in den neuen Ländern jede Chance zu einer anderen als der Großen Koalition nutzen. Andererseits gerate man damit „in eine unglaubliche Abhängigkeit von der PDS“.
Das Dilemma der SPD, in der Großen Koalition nie über den Status des Juniorpartners hinauszukommen, sehen auch die Grünen. Doch das bundespolitische Risiko der Magdeburger Entscheidung, das in der SPD derzeit ganz klein geredet wird, haben die Grünen voll im Blick: Mit der zu erwartenden „Volksfrontkampagne wird in Zukunft noch diffamierender als bisher mit Rot-Grün umgegangen“, erklärt Heide Rühle. „Wir kommen in eine Ecke, aus der wir längst heraus waren.“ Drastischer formuliert Fraktionsgeschäftsführer Werner Schulz: „Rot-Grün unter Rotlichtbestrahlung.“ Auch er sieht den „deutlichen Mobilisierungseffekt“ von Magdeburg — nur in die andere Richtung: „Nicht für, sondern gegen Rot-Grün.“ „Die Mehrheit der Bundesbürger wird die jetzige Koalition einer solch abenteuerlichen Variante vorziehen.“ Er spricht von einer „Fehleinschätzung“ der SPD. „Hier wird die nächste Niederlage vorbereitet.“
Für die Bürgerrechtler kommt die neue Rolle der PDS ohnehin etwas plötzlich. Die PDS, so Schulz, komme jetzt in die „komfortable Lage einer regierungsbestimmenden Opposition.“ Das sieht Günter Verheugen ganz anders: „Die PDS wird im Landtag keine operative Rolle spielen.“ Die Stimmen der PDS seien nicht erbeten. Man sei nicht auf sie angewiesen, könne sie allerdings auch nicht verhindern.
Das allein würde den Wahlkampfplanern der Union schon reichen, ihre Einheitsfrontkampagne zu starten. Doch erst die Magdeburger Grünen liefern — wohl kaum in Absprache mit der Bonner SPD-Zentrale — die Wahlkampfargumente: Die Mehrheiten werde man sich überwiegend bei der PDS suchen, erklärt die grüne Spitzenkandidatin und verweist auf die inhaltlichen Gemeinsamkeiten von SPD, Grünen und PDS. Fraktionschef Tschiche pflichtet bei und sieht die Bürgerrechtler schon als Vermittler zwischen SPD und PDS.
Doch, wen wundert's noch, auch vor der Kampagne der Union ist der SPD nicht bange: „Die Rechte tut“, so Karlheinz Klär, „was sie immer tut, wenn sie in Gefahr gerät. Sie holzt, wie '69, wie '72. Und wir werden wie '69 und '72 kämpfen um die Führung in diesem Land.“
Das Unverständnis, das man bislang der SPD wegen ihres mangelnden Mutes entgegenbrachte, spiegeln die Bonner Genossen derzeit allen Zweiflern zurück. Die Entschlossenheit imponiert. Die euphorischen Argumente scheinen unwiderlegbar. Das hat es lange nicht gegeben. Oder doch? Ein bißchen erinnert die Siegeslaune der SPD an ihren Versuch, uns alle von den Chancen Johannes Raus zu überzeugen, Bundespräsident zu werden. Aber das sind die Einwände von Spielverderbern. Matthias Geis
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