: Gemeinsam auf und nieder
An der Arminia kommt man in Bielefeld gar nicht vorbei. Der Klub, der zwischen den Extremen pendelt,ist identitätsstiftend wie kaum ein anderer. Nun steht der Drittligist im DFB-Pokalfinale gegen den VfB Stuttgart

Aus Bielefeld Maik Rosner
Thomas Steinbicker kann manch eine Anekdote zum Pokalfinalisten Arminia Bielefeld erzählen. Wie jene zur wilden Partynacht im Wintertrainingslager 1997 auf Zypern, in der der damals 19 Jahre alte Steinbicker und ein Freund als einzige Arminia-Fans vor Ort waren und mit den Bielefelder Bundesligaspielern auf der Straße Sirtaki tanzten. Dass davon keine Bilder überliefert sind, lag an Stefan Kuntz, der als Europameister zur Arminia gewechselt war und zu Beginn der Partynacht die Batterien aus den Fotokameras der beiden Fans einkassiert hatte.
Eine andere Anekdote handelt davon, wie Steinbicker in den 1990er Jahren als Jugendlicher mit Freunden mehrmals in Nächten vor Heimspielen die Torpfosten auf der Bielefelder Alm in den Vereinsfarben schwarz-weiß-blau anmalte. Die Lokalpresse berichtete. Bei einem weiteren Versuch ließen die Jungs ihre Farbeimer zunächst auf einem Spielplatz zurück, weil auf der Alm mitten in der Nacht komischerweise das Flutlicht brannte. Als sich die Schüler ins Stadion geschlichen hatten, machten sie Bekanntschaft mit einem Kripo-Beamten, der nach den Pfostenmalern fahndete. „Wir haben ihm erklärt, dass wir große Fans der Arminia sind und die Alm einmal im Mondschein bewundern wollten“, erzählt Steinbicker. Der Polizist habe für dieses romantische Bedürfnis Verständnis gezeigt. Die Pfostenmaler wurden nie gefasst.
Es sind nicht immer solch spektakuläre Anekdoten, die die gut 330.000 Einwohner in Bielefeld zur Arminia erzählen können. Aber irgendeine Geschichte verbindet doch viele mit dem Verein. Allein schon, weil man an der Arminia gar nicht vorbeikommt. Die Alm steht im Herzen der Stadt in einem Wohngebiet zwischen dem Zentrum und der Universität, unweit des Siegfriedplatzes. In Berlin entspräche das ungefähr dem Kiez Friedrichshain und in München dem Glockenbachviertel. Mehr Nähe zu den Menschen geht schon räumlich kaum.
Bei Abendspielen ist das Flutlicht aus vielen Teilen der Stadt zu sehen, oft lässt sich das Raunen des Publikums vernehmen. Als die Alm noch nicht komplett überdacht war und der Schall vom Wind hinausgetragen werden konnte, waren die Torschreie sogar in mehreren Kilometern Entfernung zu hören. Der Verein prägt das Stadtbild, ob durch Fahnen, Graffiti oder Aufkleber. Es gibt sogar eine Arminia-Tankstelle, die 12. Mann heißt und in den Vereinsfarben gestaltet ist. Generationen von Teenagern gingen direkt neben dem Stadion zur Schule und zum Sportunterricht in die Almhalle, in der sich früher auch die Profikicker umzogen.
Bei manchen Bielefeldern führte die Bindung so weit, dass sie mit ihrer Vespa stundenlang zu einem Auswärtsspiel der Oberliga Westfalen in Erkenschwick fuhren. Oder sie stibitzen der Mutter, die als Burgwartin arbeitete, die Schlüssel und hissten 1995, als der Aufstieg in die zweite Liga nach sieben Jahren der Drittliga-Tristesse endlich gelungen war, Arminias Fahne auf der Sparrenburg, die über der Stadt thront. Aus dem damaligen Jugendstreich entwickelte sich eine offizielle Tradition.
Anlässe gab es ja genug. Seit 1970, als es die Arminia in die erste ihrer 19 Bundesliga-Saisons geschafft hatte, häufte sie 23 Auf- und Abstiege zwischen erster, zweiter und dritter Liga an, oft in schneller Folge. Allein in die Bundesliga ist sie je achtmal aufgestiegen und wieder abgestiegen.
Ständig pendelt dieser Verein zwischen den Extremen: zum Aufstieg und danach zur maßgeblichen Beteiligung am Bundesligaskandal, zu einem 4:0-Sieg beim FC Bayern mit anschließendem Abstieg oder zu einer 1:0-Führung und einem 1:1-Pausenstand bei Borussia Dortmund, um noch 1:11 zu verlieren. Zwei achte Plätze am Ende der Bundesligasaisons 1982/83 und 83/84 waren bisher das Maximum. Dreimal war die Arminia zudem in den Pokalhalbfinals 2005, 2006 und 2015 ausgeschieden. Zwischen 2022 und 2024 wäre Bielefeld beinahe dreimal hintereinander abgestiegen, von der Bundesliga bis in die Regionalliga. Gefühlschaos pur.
Es ist für diesen Verein nur konsequent, dass ihm ein Jahr nach der knappen Rettung vor der Viertklassigkeit der Aufstieg in die zweite Liga gelingt und zudem durch den Einzug ins Pokalfinale sein größter Erfolg. Sensationell gelungen war dieser der Mannschaft von Trainer Mitch Kniat, 39, durch jeweils verdiente Siege gegen den Zweitligisten Hannover 96 (2:0) sowie die Bundesligisten Union Berlin (2:0), SC Freiburg (3:1), Werder Bremen (2:1) und Bayer Leverkusen (2:1). Die Werkself war der deutsche Meister und Pokalsieger der vergangenen Saison, ihr Kader ist fast 80-mal so viel wert wie der der Arminia. Es ist also auch eine Geschichte für alle Fußballromantiker, weit über Bielefeld hinaus.
Sollte die Arminia auch noch das Pokalfinale gegen den VfB Stuttgart am 24. Mai gewinnen, stünden kommende Saison acht Spiele in der Europa League an und zuvor die Partie um den Supercup gegen den deutschen Meister FC Bayern. Die Fans singen längst von Reisen durch Europa. Die Euphorie in Bielefeld und Ostwestfalen ist ungefähr so groß wie jenes 130 Quadratmeter große Arminia-Trikot, mit dem das Hermannsdenkmal zehn Tage vorm Pokalfinale eingekleidet wurde. Deutschlands höchste Statue erinnert an den Namensgeber des Vereins, den Cherusker Arminius, der den Römern im Jahre 9 nach Christus eine ihrer größten Niederlagen beibrachte. „Niemand erobert den Teutoburger Wald“, heißt in Anlehnung daran ein Slogan des Vereins, „stur, hartnäckig, kämpferisch“ und „auf und nieder, immer wieder“ lauten weitere.
Für die Arminia wäre es nur logisch, wenn sie ihren aktuellen Flow noch eine Weile fortsetzen sollte, ehe sich dieser wieder ins Gegenteil verkehrt. Wahrscheinlich haben gerade dieser Wankelmut und die tiefen Abstürze auch viel damit zu tun, dass der selbsternannte „Club der Ostwestfalen“ so leidenschaftliche Fans hat. „Weil wir wissen, wie es sich anfühlt, unten zu stehen, sind wir in der Lage, Siege zu feiern wie andere nur Titelgewinne“, heißt es bei der Arminia. Uli Zwetz, 64, hat die Ausschläge fast alle miterlebt, zunächst als Zuschauer und später als Reporter von Radio Bielefeld, bei dem er anfangs mit dem Comedian Matze Knop über die Arminia berichtete. Seit 1996 hat Zwetz nur zwei Arminia-Spiele verpasst. „Fußball ist natürlich immer volatil, aber für die Arminia gilt das erst recht“, sagt Zwetz, „als Fan dieses Vereins muss man eine Leidensfähigkeit und Frustrationstoleranz haben“.
Wirklich ergründen kann er die Ambivalenz des Klubs aber nicht, der auch finanziell schon mehrfach am Ende war. Dabei passt das gar nicht zur bodenständigen Mentalität in der durchaus wohlhabenden Region des Mittelstands. „Ich frage mich immer: Warum bekommt man diese ostwestfälische Stabilität bei der Arminia nicht rein?“, sagt Zwetz. Er verweist auf Freiburg und Mainz, zwei deutlich kleinere Städte, deren Vereine sich in der Bundesliga etabliert haben. Dabei hätte auch die Arminia gute Voraussetzungen dafür. Wie die Menschen stehen die Unternehmen der Region fest hinter dem Verein, darunter Großkonzerne wie Dr. Oetker und der Hauptsponsor Schüco.
Das beste Beispiel dafür war das 2017 ins Leben gerufene und im deutschen Profifußball einzigartige Konstrukt Bündnis Ostwestfalen, in dem sich Unternehmen der Region zusammenschlossen, um die hoch verschuldete Arminia vor der Insolvenz zu bewahren.
Durch die Arminia entdecken auch die Ostwestfalen ihr sonst gut kaschiertes Temperament. Die Alm genießt bundesweit den Ruf, ein besonders stimmungsvolles Stadion zu sein. Die Stadt allerdings hat ein nicht ganz so tolles Image. Studien ermittelten Bielefeld mehrfach als deutschen Durchschnitt. Mit der sogenannten Bielefeld-Verschwörung wurde sich darüber lustig gemacht, dass es die Stadt angeblich gar nicht gebe. In Bielefeld geht man damit meist selbstironisch um.
Der Soziologe Thomas Faist von der Uni Bielefeld begründet das leidenschaftliche Verhältnis vieler Menschen zur Arminia auch mit dem großen sozialen Engagement des Vereins durch Kooperationen mit Behinderteneinrichtungen, Schulen oder im Kunstbereich. „Arminia ist sehr präsent in der Stadtgesellschaft“, sagt Faist, er spricht von „Vergemeinschaftungsprozessen“ sowie einer „gefühlten Zusammengehörigkeit aller Beteiligten“. Der seit 2009 amtierende Oberbürgermeister Pit Clausen verweist auf Anfrage ebenfalls auf Arminias soziales Engagement. Die vielen Aktionen und die Nahbarkeit „begründen das Gefühl, dass Arminia ein Teil Bielefelds ist und nicht nur eine Profi-Fußballmannschaft“, sagt der SPD-Politiker, „Arminia ist in hohem Maße identitätsstiftend für Bielefeld und die Region.“
Jetzt also das Pokalfinale in Berlin, wo Zehntausende Arminia-Fans erwartet werden. Thomas Steinbicker, der inzwischen 47 Jahre alt ist, wird im Olympiastadion sein und darauf hoffen, dass der herrlich unperfekte Traditionsverein noch ein Wunder schafft und seinen ersten großen Titel überhaupt gewinnt, exakt drei Wochen nach seinem 120. Geburtstag. Europas Torpfosten und Burgen sollten sich schon mal in Acht nehmen.
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