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Gejodelte Botschaften

■ Ein preisgekröntes Jugendbuch aus den USA

MC. — das ist der 13jährige Schwarze Mayo Cornelius, der sich seines Vornamens schämt und lieber „der Große“ genannt wird: Nur er kann durch den reißenden Ohio von einem Ufer zum anderen schwimmen, durch einen Felstunnel im Bergsee tauchen, bis ihm die Lungen schier platzen, und zu Hause auf den dreizehn Meter hohen Stahlmast klettern, der alleine ihm gehört. Von dort oben, auf dem Fahrradsitz, begrüßt er den Sonnenaufgang, von hier aus hat er seine Welt unter Kontrolle: die Berge und Täler rings herum, den Weg herauf zu Sarahs Mountain, den Badeplatz seiner Geschwister, der „Kinder“, drüben am See und, in der Ferne, den großen Strom. M.C. hat sogar die Macht, diese Welt tanzen zu lassen, wenn er übermütig seinen Mast wie ein Pendel schwingen läßt, bis ihm das rauschende Grün der Täler entgegenschlägt und er auf dem blinkenden Stahl zurückschnellt in den blauen Himmel.

Seine Ururgroßmutter Sarah war mit ihrem Kind aus der Sklaverei auf diesen Berg geflohen. Seitdem leben die Higgins hier, in einem einfachen Haus, inmitten einer überwältigenden Natur. Sarahs Berg ist Heimat und Teil der Identität, gleichzeitig wuchern hier Legenden, Aberglaube und Mißtrauen gegen alles Fremde, sogar gegen die unmittelbare Nachbarschaft. Geradezu auf archaische Weise verständigen sich die Familienmitglieder über weite Entfernungen mit gejodelten Botschafen — das Jodeln, so erfahren wir von der Übersetzerin, haben die ersten europäischen Siedler in die Berge des Staates Ohio mitgebracht. Rhythmisierter Sprechgesang, Singspiele, improvisierte Satzfetzen, in „schwarzem“ Takt und Swing gesungen, gehören zum täglichen Miteinander in der Familie. Banina, die Mutter, verfügt über eine virtuose Naturstimme, die ihren Mann und ihre Kinder immer neu fasziniert und diese gleichzeitig mit der Aura familiärer Intimität umhüllt.

Für M.C. wird die Familienidylle jedoch mehr und mehr trügerisch. Die Higgins sind arm, der Vater verdient nur gelegentlich in der Fabrik, die Mutter muß täglich den weiten Weg hinunter in die Stadt machen, um für wenig Geld hart zu arbeiten. Die Kaninchen, die M.C. hin und wieder mit Fallen fängt, sind notwendige Abwechslung auf dem Speisezettel. Auch Sarahs Berg ist bedroht. Bulldozer wühlen im Tagebau die Erde auf. Die Abraumhalde kommt täglich näher, der Berg droht zu rutschen und beim nächsten starken Regen das Haus unter sich zu begraben. Der Vater scheint die Gefahr zu verdrängen und bleibt untätig. M.C. dagegen sinnt auf Rettung für die Mutter und die kleinen Geschwister. Für ihn steht fest: Wir müssen hier weg! Rettung erhofft er von einem Typen aus der Stadt, der in den Bergen aufgetaucht ist, mit seinem Kassettenrecorder Stimmen von Schwarzen aufnimmt. Er wird — so rechnet M.C. — Banina entdecken, Plattenaufnahmen mit ihr machen, und bald wird sie ein Star sein. Der Typ entpuppt sich jedoch als ein etwas verschrobener und melancholischer Privatsammler. Alle Erwartungen des Jungen sind zunichte.

Da die Flucht unmöglich geworden ist, bleibt M.C. nur eines übrig — er muß handeln.

Mit diesem Buch ist es Virgina Hamilton gelungen, schwarze Tradition und Lebenswelt zu vermitteln, tief wurzelnde Naturverbundenheit, Rhythmus und Musikalität, die bis zum namenlosen afrikanischen Ursprung zurückreichen. Die Autorin schreckt vor ungewöhnlichen Bildern und Geschichten nicht zurück und umwebt diese mit der Schilderung einer allgegenwärtigen Natur, die einen Mitteleuropäer schon traumhaft anmutet. Die Kraft und Magie dieser Imagination ist meisterhaft. Kernstück des Buches sind die Lieder, die Musik, die im amerikanischen Original natürlich ungleich authentischer sind — und von denen ich mir gewünscht hätte, mehr hier im Original vorzufinden (selbst wenn sie dann in einer Fußnote übersetzt werden müssen).

M.C.Higgins, der Große wurde in den USA mit dem hoch angesehenen Newberry Award ausgezeichnet. Ich hoffe, daß dieser Titel eine Reihe von Hamilton-Übersetzungen anführen wird. Näheres zu der in ihrer Heimat sehr bekannten Autorin im lesenswerten Nachwort der Übersetzerin. Irmingard Seidel

Virgina Hamilton: M.C.Higgins, der Große , Beltz & Gelberg 1990, 360 Seiten, 26 DM (ab 14)

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