Gegenentwurf Gemeinwohl-Ökonomie: Auftakt einer neuen Wirtschaft
Regionalgruppe wirbt für eine am Gemeinwohl orientierte Ökonomie und den Abschied vom Wachstum. Ein Modell, das in eine krisenfeste Zukunft führen soll.
BREMEN taz | Noch bevor der Blick auf die Häppchen fällt, die in Gestalt aufgespießter Oliven und Weintrauben auf Käse und Pumpernickel oder geschnittener Brotscheiben mit Rote-Bete- oder Curryaufstrich gleich neben dem Eingang parat stehen, bekommt jeder Eintretende einen kopierten taz-Artikel zum Thema des Abends in die Hand gedrückt: „Abschied vom Wachstumszwang“ so der Titel. Hier, im Bauraum e. V., einem Ausstellungszentrum für das Modernisieren und Energiesparen, dreht sich heute alles um einen Gegenentwurf zur kapitalistischen Wirtschaft.
Die Gemeinwohl-Ökonomie, kurz GWÖ, verspricht, ein Modell mit Zukunft zu sein: Weil es nicht auf Wachstum schielt, sei es weniger anfällig für Wirtschaftskrisen, erklären die Vertreter der Bremer Regionalgruppe des GWÖ-Netzwerks aus dem Dunstkreis von Attac, das mit einer Pusteblume für sich wirbt. Das Auftakttreffen richtet sich zunächst an Unternehmen, die mit gutem Beispiel vorangehen und sich mit einer Gemeinwohl-Bilanz zertifizieren lassen wollen. Denn Wachstum mache Menschen krank, sagt Jürgen Fuchs, ein in der Bremer Attac-Gruppe aktiver Arzt. Auf der Suche nach Alternativen zur kapitalistischen Wirtschaft sei man auf die Gemeinwohl-Ökonomie gestoßen, erklärt er: „Das Modell ist das ausgefeilteste, das es derzeit gibt.“
Das Konzept, den Wohlstand gerechter zu verteilen, auf Kooperation statt auf Konkurrenz zu setzen und das Gemeinwohl statt die Maximierung des individuellen Nutzens als Ziel allen Wirtschaftens in den Mittelpunkt zu rücken, stammt vom Wiener Publizisten und Mitbegründer von Attac Österreich, Christian Felber. Es versteht sich als ein Entwicklungsprozess, an dem jeder Privatmensch und jedes Unternehmen teilnehmen kann.
Europaweit orientieren sich bereits 1.720 vor allem kleinere Betriebe daran und legen entsprechende Gemeinwohl-Bilanzen vor. Dabei handelt es sich um messbare Kriterien, die sich an Werten wie der gegenseitigen Wertschätzung und Gerechtigkeit orientieren. Die Erträge des Betriebs sollen dementsprechend möglichst den Mitarbeitern dienen, mit knappen Ressourcen sollte sparsam umgegangen werden und betriebliche Strukturen sollten transparent und demokratisch sein. Die Bandbreite der Unternehmen, die sich zur Gemeinwohl-Ökonomie hingezogen fühlen, ist groß: Neben dem Kräuterhändler Sonnentor und dem Biobäcker Märkisches Landbrot sind Handels- und Handwerksbetriebe und Dienstleister mit von der Partie. Zu den größten Unternehmen zählt die Münchner Sparda-Bank. Auch die taz hat kürzlich eine Gemeinwohl-Bilanz erstellen lassen. Seit knapp vier Wochen findet sich auf der Website selbsttest.gwoe.net auch der Gemeinwohl-Selbsttest für Privatpersonen.
Anvisiert ist auch ein monetärer Nutzen. Über ein Belohnungssystem, in dem Unternehmen über Gemeinwohl-Punkte steuerliche Vorteile genießen oder bessere Kredite bei staatlichen Banken bekommen.
Andreas Bruske, der an diesem Abend aus Bad Bederkesa gekommen ist, um über seine Erfahrungen mit der GWÖ zu berichten, fühlt sich noch ziemlich allein auf weiter Flur. Der Gründer und Geschäftsführer des 25 Mitarbeiter zählenden Betriebs „ad fontes“ baute bereits 1987 die ersten Solaranlagen auf Hausdächer. „Bislang habe ich darauf nur drei Rückmeldungen bekommen“, sagt er. Gebracht hätte es ihm trotzdem viel. Vor allem, so hebt er hervor: die Reflexion über das eigene Handeln.
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