Gegen die eigene Arbeit: „Wir schaffen Hartz IV ab“
Eine Mitarbeiterin im Jobcenter Altona kritisiert öffentlich ihre eigene Arbeit und die geltende Sozialpolitik. Das bringt ihr Unterstützer ein – aber auch Feinde.
![](https://taz.de/picture/165990/14/c4_arbeitsamt_dpa_01.jpeg)
Inge Hannemann sitzt in einem Café in Altona, vor ihr ein Latte macchiato – und ihr Handy, auf dem ständig Nachrichten einlaufen. „Da“, sagt sie leise, „noch ein Whistleblower. Ich muss gar nicht da sein, um über Neuigkeiten informiert zu werden“, sagt die Fallmanagerin im Jobcenter Altona lächelnd. Noch bis zum 21. April hat Hannemann Urlaub. Sie glaubt allerdings nicht, dass sie danach noch einmal an ihren Arbeitsplatz zurückkehren kann.
„Die werden alles dagegen tun. Mein Büro wurde schon durchsucht, um etwas gegen mich in der Hand zu haben“, sagt sie. Arbeitskollegen hätten sie und ihre Familie bedroht, ein Vorgesetzter habe gesagt, sie solle zu ihrem eigenen Schutz besser kein Jobcenter mehr betreten. Denn Hannemann kritisiert öffentlich ihre eigene Arbeit, die ihrer Kollegen und die Strukturen des Jobcenters.
„Da wird ein Mobbing-Opfer zum Täter gemacht“, klagt die 44-Jährige. Seit 2005, als die Jobcenter gegründet wurden, ist Hannemann Fallmanagerin. Anfangs gefiel ihr die Arbeit. „Es war nichts geregelt, alles war unklar.“ Es habe das Sozialgesetzbuch II (SGB II) gegeben, „aber ohne die 58 Änderungen, die es heute gibt. Es ging damals noch darum, Menschen zu Arbeit zu verhelfen“, sagt Hannemann, „und nicht darum, Menschen Arbeit zu vermitteln.“
Das erste Mal zweifelte sie an der Arbeit der Jobcenter, als das SGB II-Fortentwicklungsgesetz in Kraft trat. Aber auch danach folgten weitere Möglichkeiten für die Jobcenter, Arbeitssuchende zu sanktionieren. Hannemann und ihre Altonaer Kollegen vermitteln inzwischen vier von fünf der Betroffenen an Zeitarbeitsfirmen. Weil deren Löhne nicht reichten, blieben die Menschen ewig „Aufstocker und abhängig“, sagt Hannemann: abhängig von der Tageslaune der Kollegen in den Jobcentern, gezwungen zu teilweise sinnlosen Maßnahmen. Dahinter steckten Vorgaben, die die Fallmanager und Arbeitsvermittler von ihren Teamleitern bekämen.
Hannemann erzählt, sie habe immer versucht, die persönliche Ebene zu bewahren: „Wenn sich jemand aus Angst nicht ins Jobcenter traut, fahre ich zu ihnen. Manchmal schaue ich mir das Arbeitsumfeld der Maßnahmen an, um zu sehen, wer da hineinpasst und wer nicht“, beschreibt sie. Mit diesem Engagement sei sie im Jobcenter Altona aber fast ganz alleine.
2007 habe sie erstmals versucht, mit Mitarbeitern und Vorgesetzten über die Ungerechtigkeiten zu sprechen, sei auch auf leisen Zuspruch gestoßen – meistens aber auf Ablehnung. „Wenn es dir hier nicht gefällt, dann geh doch“, habe sie oft gehört. Doch der gelernten Speditionskauffrau und studierten Journalistin geht es um mehr als ihr persönliches Wohlbefinden: Sie will das System verändern, Hartz IV abschaffen, weil es gegen das Grundgesetz verstoße. Dafür hat sich Hannemann vernetzt: Sie bloggt und findet viel Zuspruch in ganz Deutschland, hat inzwischen zahlreiche Unterstützer, darunter auch Wissenschaftler und Kabarettisten.
Diese organisieren sich über Facebook, Twitter und treffen sich auf Veranstaltungen. Sie selbst umgibt sich mit mehreren Anwälten, einer Psychologin und einer PR-Beraterin. Es sei ein Weg gefunden worden, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen Hartz IV zu klagen. „Es ist alles geplant“, sagt Hannemann, „lange kann es nicht mehr dauern.“
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