Gedenken an ermordete Juden: Ein Album für die alte Heimat
Die Ausstellung "Wir waren Nachbarn" erinnert an die Lebenswege von vertriebenen und ermordeten Schöneberger Juden. Jetzt wurde die Schau erweitert.
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"Lebensmittel dürfen Juden in Berlin nur nachmittags von 4 bis 5 Uhr einkaufen." Wer rund um den Bayerischen Platz spazieren geht, bleibt angesichts dieser irritierenden Anordnung unweigerlich stehen. "4. 7. 1940" steht auf dem emaillierten Schild, das die Künstler Renata Stih und Frieder Schnock bereits 1993 angebracht haben. 80 dieser Tafeln sind an Laternenmasten im nördlichen Schöneberg verteilt.
Anfang der 30er Jahre lebten rund 16.000 Juden in Schöneberg - namhafte Persönlichkeiten wie Else Lasker-Schüler und Erich Fromm, aber auch einfache Leute wie Benedict Lachmann, der am Bayerischen Platz Bücher verkaufte, oder Luise Zickel, Leiterin der jüdischen Volksschule in der Kufsteiner Straße.
Die Ausstellung "Wir waren Nachbarn" hält mit Liebe zum Detail ihre Lebensgeschichten fest. Zum ersten Mal gezeigt wurde sie ebenfalls 1993, seit 2010 ist sie dauerhaft im Rathaus Schöneberg zu sehen. Die Schau besteht aus "Familienalben", die größtenteils auf Gesprächen mit Zeitzeugen basieren. Anlässlich des Holocaust-Gedenktags am heutigen Freitag wurden nun sechs neue Alben präsentiert, damit erhöht sich die Zahl auf 142. "Eigentlich müssten hier 6.000 Biografien liegen", sagt Kuratorin Katharina Kaiser. 6.069 jüdische Männer und Frauen wurden von den Nazis aus Schöneberg und Friedenau deportiert.
Wie in einer Bibliothek sitzen die Besucher an langen Lesepulten und blättern durch die Alben mit persönlichen Bildern, Briefen und wichtigen Dokumenten. An den Wänden des Saals hängen kleine Karteikarten mit Namen und Adressen der einstigen Nachbarn. "Jeden Tag kommen Leute, um nachzuforschen, wer in ihrem Kiez gelebt hat", erzählt Rosita Meiworm, die die Sammlung mitbetreut.
Als Peter Hecht im vergangenen Jahr seinen Sohn David in Berlin besuchte, hatte er Vorbehalte. "Bei uns war immer klar: Wir kaufen keinen VW. Die Deutschen waren stets die Bösen", erklärt David Hecht die skeptische Haltung seiner Eltern zu ihrer alten Heimat. Zusammen besuchten sie die Ausstellung. Seit die Familie Anfang 1939 nach Australien geflohen war, hatte der Vater kein Deutsch gesprochen. Nun erzählte er, der Berlin als Zehnjähriger verlassen musste, seine Geschichte: "Obwohl ich so jung war, habe ich zwei Sachen, an die ich mich genau erinnern kann. Die Reichskristallnacht und wie am nächsten Tag die Gestapo kam und meinen Vater mitgenommen hat."
Wie viele andere jüdische Männer brachten die Nazis Peters Vater, den Textilfabrikanten Willy Hecht, ins KZ Sachsenhausen. Sie hatten zuvor nicht nur Inventar und Waren zerstört, sie zwangen den Unternehmer zudem zu einer "Vermögensabgabe" von 45.000 Reichsmark. Er konnte das Lager erst verlassen, nachdem er versicherte, aus Deutschland auszureisen. Noch im Dezember buchte die Familie die Schiffspassage nach Melbourne. Dort eröffnete Willy Hecht eine kleine Milchbar. Durch die Arbeit an "seinem" Album hat Peter Hecht mit seiner Vergangenheit abgeschlossen. "Die Wunde hat sich geschlossen", glaubt sein Sohn David.
Nicht alle kamen wie die Hechts mit dem Leben davon. Marianne Cohn floh mit ihren Eltern nach Spanien und schloss sich in Frankreich der Résistance an. 1944 wurde sie verhaftet und erschossen. Heute trägt eine Tempelhofer Schule ihren Namen. Auch ihre Geschichte erzählt eines der neuen Alben.
Im heutigen Bestand der Ausstellung stecken mehr als 20 Jahre Arbeit mit Zeitzeugen und Überlebenden. Das stetig wachsende Archiv ermöglicht Sonderausstellungen zu bestimmten Schwerpunkten. In diesem Jahr geht es um Ärzte wie Bruno Wolff und Joseph Lachmann.
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