Gedankenspiel einer taz-Neugründung (4): Christian Jakob : Wankendes Selbstbild
Die taz-Gründung fußt auf der Idee von Gegenöffentlichkeit. In Zeiten des Autoritarismus brauchen linke Medien mehr bürgerliche Allianzen, so tazzler Christian Jacob.
Aus der taz | Die taz wollte einst eine „Gegenöffentlichkeit“ schaffen und „unterdrückte Nachrichten“ veröffentlichen. Heute müsste sie ihr Selbstverständnis wohl neu definieren.
Früher verschaffte die „Gegenöffentlichkeit“ progressive Inhalten Raum und unterstützte so fortschrittliche Politik. Heute tritt als „Gegenöffentlichkeit“ ein Ökosystem von Medien und Social-Media-Kanälen auf, die nicht progressiv, sondern rechtsextrem, verschwörungsideologisch oder beides sind.
Sie begreifen sich als Gegenspieler eines „grünlinken“, „woken“ oder „globalistischen“ Mainstreams, der von „Kartellparteien“, „Systemmedien“, NGOs etc. verkörpert wird. Wie berechtigt diese Wahrnehmung angesichts etwa einer immer härter werdenden Migrationspolitik ist, ist zweifelhaft.
„'Meinungsfreiheit' ist vielfach zur Chiffre für den Anspruch verkommen, Hass ungebremst in die Welt schleudern zu dürfen“
Doch das Selbstverständnis von „Gegenöffentlichkeit“ ist heute anders gepolt. Die Rechte reklamiert die Rolle der Systemgegnerschaft für sich. Und ihre „Alternativmedien“ reklamieren so dasselbe für sich, wie einst die taz: ‚Bei uns lest ihr, wovon die Mächtigen nicht wollen, dass ihr es erfahrt.‘
Ihre vermeintlich „unterdrückten Nachrichten“ aber sind oft nichts weiter als Leugnung der Klimakrise, Antisemitismus, Demokratiefeindlichkeit, rassistische, LGBTIQ*- oder islamfeindliche Propaganda. Sie sollen demokratische, progressive Akteure, Institutionen und Haltungen diskreditieren – und sie attackieren dabei unterschiedslos alles vom liberalen Konservatismus bis zur radikalen Linken.
Seit 2006 bei der taz, zunächst bei der taz Nord, seit 2014 im Ressort Reportage und Recherche. Im Ch. Links Verlag erschien von ihm im September 2023 „Endzeit. Die neue Angst vor dem Untergang und der Kampf um unsere Zukunft”.
„Meinungsfreiheit“ ist so vielfach zur Chiffre für den Anspruch verkommen, Hass ungebremst in die Welt schleudern zu dürfen. Prodemokratische Positionen hingegen finden sich heute – nicht nur, nicht immer, aber in ihrer Gesamtheit eben doch – eher in den etablierten Medien.
Abwehrkämpfe
Als die taz gegründet wurde, wollte sie eine „radikale“ Zeitung sein, und die Linke wollte etwas Neues, Besseres aufbauen. Heute hat sie vor allem Abwehrkämpfe zu führen, muss einst erkämpfte Rechte, Errungenschaften, Standards, gegen ihren Abbau verteidigen. Als „radikal“ gilt heute bereits, auf die Einhaltung von Menschen- oder EU-Recht zu bestehen.
Aber nicht nur deshalb ist das Verhältnis zu den demokratischen Parteien, von der extremen Rechten als „Kartellparteien“ geschmäht, heute ein anderes. Der Autoritarismus lässt Protest nicht oder nur zu kaum zumutbaren Bedingungen zu. Wer aber vor einer Demo nicht weiß, ob er danach dauerhaft im Knast verschwindet, wird sich schon bald dreimal überlegen, ob er hingeht.
Ohne das bürgerliche Milieu, den Gegner von einst, wird sich heute kein Zustand bewahren lassen, in dem Presse-, Demonstrationsfreiheit, Bürgerrechte halbwegs geachtet werden und in dem es so möglich bleibt, für etwas Besseres einzutreten. 🐾