Gedanken über die Furcht: Am Kap der Angst
"Angst ist keine Weltanschauung", sagt Kurt von Hammerstein. Wie Sie Todesangst, Versagensangst, Sozialangst und Angstangst erkennen.
In der Bauleitung für den Lehrter Bahnhof, wo ich vor einigen Jahren als studentische Hilfskraft arbeitete, sagte mir meine Vorgesetzte eines Tages, sie traue sich nicht mehr nach Hause, weil sie Angst habe, ihr Kollege, mit dem sie für die Zeit des Projekts in Berlin eine Wohnung teilen musste, werde eines Nachts mit einem Maschinengewehr in ihr Zimmer kommen. Ich fand das etwas hysterisch. Am folgenden Tag jedoch trafen wir den Kollegen auf dem Weg zum Mittagessen, und als sein Blick mich traf, wusste ich, was sie meinte - Todesangst.
Die Stimmung auf der Baustelle wurde immer schlimmer. Ein Bauleiter und ein Ingenieur nach dem anderen flogen raus oder wurden mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen ins Krankenhaus eingeliefert. Die Herren Ingenieure von Bahn und Arge buckelten nach oben und traten nach unten weiter. Kollegen verkehrten nur noch schriftlich miteinander. Der Druck stieg an. Kurz darauf wurde der Berg an Arbeit immer größer, meine Chefin verließ die Firma, und ich hatte jeden Morgen Angst, dass ich am Tag zuvor Tausende von Euros durch einen Fehler verbrannt haben könnte - Versagensangst.
Ich ging immer öfter auf die Baustelle und immer seltener an die Uni. Mich beschlich die Angst, dass ich auch dort den Anschluss verlieren würde. Zuletzt blieb ich ganz weg, weil ich befürchtete, dort nicht mehr willkommen zu sein - Sozialangst.
Man entließ die Sekretärin, sie schwieg dazu, weil sie Angst hatte, sie käme dann auf eine schwarze Liste, und ich auch, aus Angst mit zu fliegen. Ein ehemals langzeitarbeitsloser Techniker wurde mir zur Seite gestellt und aus Angst, dass er vor mir wieder gehen müsste, verbreitete er, ich würde dauernd Fehler machen. Ich wurde krank - und bekam rückwirkend die Kündigung. Danach wurde mein mobbender Kollege krank und flog ebenfalls.
Seit meinem Umzug nach Berlin vor einigen Jahren hat sich etwas verändert in meinem Leben. Eigentlich als Tal der Seligen verspottet, entpuppte sich diese Stadt als eher anstrengend. Meinen ersten Job kündigte ich, weil die Geschäftsführung eines jungen Unternehmens meinen Kontakt zu meinem vorherigen Chef plötzlich für gefährlich hielt. Man bezichtigte ihn der Verbreitung eines Gerüchts hinsichtlich der Zahlungsfähigkeit des Unternehmens und befürchtete, in eine Insolvenzfalle zu geraten. Ich kündigte, weil ich diese Atmosphäre nicht mehr ertrug.
Mein alter Chef lachte damals darüber: "Ach, Antonia. Die haben ständig im Hintergrund Bilanzen laufen aus Angst, sie könnten mal in Zahlungsschwierigkeiten geraten. Selbst wenn sie ne Million auf dem Konto hätten, würden sie es nicht glauben, weil ihnen die Bilanz etwas anderes sagt" - Angst vor Kontrollverlust.
An der Uni machte ich plötzlich die Erfahrung, dass Leute nicht über ihre Ideen redeten, weil sie Angst hatten, man könne sie ihnen klauen - Verlustangst. Obwohl mein damaliger Freund Beamter war und gut verdiente, pflanzte sich eine ständige Angst in meine Brust. Dass ich die Miete nicht bezahlen kann, vor sozialem Absturz, vor Professoren, die mir ansahen, was ich für ein ängstlicher Hase war. Ich hatte zunehmend Angst, verlassen zu werden, und Angst davor, dass ich meine Ängste nicht mehr in den Griff bekäme - Angstangst.
An der Uni wurden in dieser Zeit "neue Seiten aufgezogen". Man befürchtete, im Rahmen des Hochschulrankings ins Hintertreffen zu gelangen. "Wir müssen uns dem internationalen Vergleich stellen", sagte man mir in der Studienberatung. "Die Studienzeiten sind dabei ein wichtiger Faktor. Unsere Studenten müssen jetzt einfach schneller fertig werden." Im selben Jahr verließen einige Professoren den Fachbereich und wurden nicht ersetzt, was zur Folge hatte, dass nicht mehr genug Projekte angeboten werden konnten. Mir wurde aber versichert, dass irgendjemand sich meiner annehmen müsse, wenn ich mit einem eigenen Projekt ankäme. Die Vorstellung, ganz allein zu Hause in einem einsamen Projekt zu ertrinken und in regelmäßigen Abständen lustlos von einer Lehrkraft angehört zu werden, die aufgrund meiner Beschwerde zur Betreuung verpflichtet wurde, war jedoch nicht angenehm.
Eines Tages sollte es eine Studienfahrt zu einer Baumesse in München geben: scheinrelevant! Eintritt, Fahrt, Essen, alles musste selbst bezahlt werden. Ich hatte nicht einmal Geld für meine Miete, jedoch Angst, mich zu drücken. Am Abend, an dem ich mit meiner Studienfreundin auf die Abreise wartend zu Hause rumsaß, überlegten wir uns, wie wir die Reise doch noch vermeiden könnten. Da zog "Kyrill" auf. "Kyrill", der Wunderbare! Es kam zu einem Verkehrschaos, und wir riefen wieder und wieder bei der Assistentin des Lehrstuhls an, um ihr unsere Bedenken vorzutragen. Endlich wurde die Reise abgeblasen - die Angst vor Naturkatastrophen nimmt ja auch zu.
Am nächsten Morgen erfuhren wir, dass "Kyrill" nur gelangweilt gepustet und am "Kap Mehdorn" einen über acht Meter langen Träger von der Fassade des Lehrter Bahnhofs geweht hatte. Man diskutierte über Pfusch und Schuld. Mir wurde warm ums Herz.
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