: Gebt den Kampf frei!
Es ist Zeit, Hitlers „Mein Kampf“ endlich zum unveränderten Nachdruck freizugeben. Unsere Demokratie ist stark genug, keinen Hitler-Rückfall zu erleiden. Im Gegenteil: Eine Freigabe wäre Zeugnis dieser politischen Reife
VON RAFAEL SELIGMANN
Die Einwände gegen eine Aufhebung der Zensur sind bekannt. „Mein Kampf“ ist eine Hetzschrift. Der Autor predigt Rassismus, speziell Judenfeindschaft. Es wird befürchtet, labile Charaktere, vor allem Jugendliche, könnten sich von dem Pamphlet angesprochen fühlen.
Die deutsche demokratische Gesellschaft aber besteht nicht nur aus ungefestigten Jugendlichen. Wir haben kaum Jugendliche! Frank Schirrmacher und andere führen uns vor Augen, dass Deutschland vergreist. Sind also die Älteren immer noch nicht gefeit gegen das Nazi-Gift? Könnten die Deutschen wieder einen Hitler-Rückfall erleiden? Wenig spricht dafür.
Während Jean-Marie le Pen in Frankreich bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen nur knapp dem Amtsträger Chirac unterlag und rechte Populisten plus ärgeres Gesocks auch in Belgien, Skandinavien, Holland, Norditalien, Russland und Rumänien Morgenluft wittern, dümpeln die NPD und ihre Ungeistverwandten hierzulande im Promillebereich. Die Deutschen sind keineswegs Nazi-resistenter als die anderen – mittlerweile aber auch nicht Hitler-affiner. Demokratien wie die USA, Großbritannien, Schweden kommen ohne „Mein Kampf“-Verbot aus. Warum besitzen wir Deutsche so wenig demokratisches Selbstvertrauen? Fürchten wir immer noch die braune Bestie in unseren Hirnwindungen?
Kommen wir auf unsere Jugendlichen zurück. Ob labil oder nicht, ausgesprochen doof sind unsere Youngsters nicht – trotz Pisa! Jedenfalls sind sie fähig, das Internet zu bedienen. Bei Eingabe der Stichworte „Adolf Hitler. Mein Kampf“ bieten eine Reihe Adressen das kostenlose Herunterladen des Buches an. Wer möchte, kann sich den Hitler-Text per Knopfdruck zu Eigen machen. Junge und Alte, die dagegen gerne eine Originalausgabe von „Mein Kampf“ erwerben wollen, erfahren umgehend Hilfe von Antiquariaten und Internet-Anbietern.
„Mein Kampf“ lässt sich also problemloser beschaffen als ein Joint.
Ist das Buch gefährlicher? Nein. Denn wäre die Hassschrift nach wie vor so kontaminierend wie einst, würde sie über die genannten Vertriebswege weiter wirken.
Die Freigabe von „Mein Kampf“ würde durch geschichtliche Information zur heutigen politischen Reife beitragen.
Während meines Studiums in den Siebzigerjahren bekamen meine Kommilitonen und ich die gleichen Ausflüchte zu hören wie heutige Studenten. „Mein Kampf“ sei unleserlich. Das „Gestammel“ eines politischen Wirrkopfes und Psychopathen. Nicht viel anders ergeht es den Lesern historischer Standardwerke.
So moniert beispielsweise der Hitler-Biograf Joachim C. Fest den schmuddeligen Jargon, den „Armeleutegeruch“, die neurotischen Ausdünstungen der Schrift ebenso wie die „Dauerpubertät“ des Autors, dem „die Welt in Bildern von Paarung, Unzucht, Perversion, Schändung, Blutverpestung erscheint“. Daraus folgert der Historiker: „Unzureichend und literarisch missglückt.“ Gewiss. Doch Adolf Hitler hatte nicht den Ehrgeiz, ein literarisches Werk zu verfassen.
Der famose britische Zeitgeschichtler Ian Kershaw kommt nach eingehendem Studium zu dem Ergebnis, das er in seiner 2.500-seitigen Hitler-Biografie aufbereitet: „Grundzüge eines politischen Programms sucht man in ‚Mein Kampf‘ vergeblich.“
Dieses Urteil ist falsch, naiv und gefährlich obendrein. Hitlers Ziel war die Komposition eines politischen Programms und dessen Umsetzung. Dabei verschmolz er seine eigene Lebensgeschichte mit der Deutschlands und offerierte sich als dessen politischer Führer: „Innerhalb langer Perioden der Menschheit kann es … einmal vorkommen, dass sich der Politiker mit dem Programmatiker vermählt. Führen heißt: Massen bewegen können … die Vereinigung von Theoretiker, Organisator und Führer in einer Person ist das Seltenste, was man auf dieser Erde finden kann; diese Vereinigung schafft den großen Mann!“ Hitler ließ keinen Zweifel daran, dass er dieser Führer war.
Der wesentliche Inhalt von „Mein Kampf“ ist die „Rassenfrage“. Sie galt Hitler als „Schlüssel zur Weltgeschichte“. Er predigte ungezügelten Antisemitismus: „(Der Jude) ist und bleibt der ewige Parasit, ein Schmarotzer, der wie ein schädlicher Bazillus sich immer mehr ausbreitet, sowie nur ein günstiger Nährboden dazu einlädt … wo er auftritt, stirbt das Wirtsvolk nach kürzerer oder längerer Zeit ab. Siegt der Jude mit Hilfe seines marxistischen Glaubensbekenntnisses über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totentanz der Menschheit sein.“
Hitler sah die Judenfeindschaft als seine göttliche Mission an: „So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Judentums erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.“ Die eigene Judenparanoia ließ Hitler die Sowjetunion in jüdischer Hand wähnen. Er nutzte dies als Vehikel zum Eroberungskrieg: „Das Riesenreich im Osten ist reif zum Zusammenbruch. Und das Ende der Judenherrschaft in Russland wird auch das Ende Russlands als Staat sein“, schrieb Hitler im 1926 veröffentlichten zweiten Band von „Mein Kampf“. Den ersten Teil seines Buches hatte er zwei Jahre zuvor als Gefangener in der Festung Landsberg am Lech verfasst. Er saß wegen seines Putsches vom November 1923 ein.
Eine Reihe von Historikern, angefangen mit dem Briten Alan Bullock, bezeichnen Hitler als prinzipienlosen Opportunisten. Er habe lediglich die sich bietenden Gelegenheiten zur Machtakkumulation ausgenützt. Die Lektüre von „Mein Kampf“ führt jedoch zu einem konträren Ergebnis. Adolf Hitler war ein Überzeugungstäter. Sein Buch war eine programmatische Schrift des Rassenhasses und des Angriffskrieges. Hitler suchte den Waffengang. Doch nicht, um das Machtgleichgewicht von vor dem Kapitulationsfrieden von Versailles zu erzwingen.
Der NS-Chef plante einen Krieg gegen Frankreich lediglich als Zwischenstufe zu Größerem. „Die Forderung nach einer Wiederherstellung der Grenzen des Jahres 1914 ist ein politischer Unsinn von Ausmaßen und Folgen, die ihn als Verbrechen erscheinen lassen“, schrieb Hitler. Ein Angriff auf das westliche Nachbarland sei nur sinnvoll „unter der Voraussetzung, dass Deutschland in der Vernichtung Frankreichs wirklich nur ein Mittel sieht, um danach unserem Volke an anderer Stelle die mögliche Ausdehnung geben zu können.“
Die Vernichtung Frankreichs war zum bloßen Mittel der Strategie Hitlers degradiert worden. Das außenpolitische Endziel Hitlers war „Lebensraum im Osten“: „Wollte man in Europa Grund und Boden, dann konnte dies im Großen und Ganzen nur auf Kosten Russlands geschehen.“
Bis zum Beginn des Russlandkrieges im Juni 1941 agierte Hitler als taktisch geschickter Politiker. Er täuschte, log und hielt häufig Friedensreden. Dabei blieb er jedoch den strategischen Zielen treu, die er in „Mein Kampf“ niedergelegt hatte. Hitler war gerade vier Tage im Amt, als er am 3. Februar 1933 in einer Geheimrede der Führung der Reichswehr seine politischen Ziele enthüllte: „Eroberung neuen Lebensraums im Osten und dessen rücksichtslose Germanisierung“.
Wer „Mein Kampf“ gelesen hat, kennt die unmenschlichen Ansichten und die verbrecherischen Ziele Adolf Hitlers. Judenfeindschaft und die Entschlossenheit zum Vernichtungskrieg waren unverzichtbare Bestandteile seines politischen Denkens und Handelns. Die Parolen „Juda verrecke!“ und die Strophe „Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“ waren mehr als Propagandalosungen, sie waren Programm.
Mag sein, dass viele einst „Mein Kampf“ nicht lasen, um sich ihre Illusionen über Hitler zu bewahren. Diesen Fehler sollten wir nicht wiederholen. Die bayerische Staatsregierung, die die Rechte an Hitlers Buch besitzt, sollte diese nutzen, um mündigen Bürgern, Schülern und Studenten die Möglichkeit zu geben, sich selbst ein Urteil über den Nazismus zu bilden. Vertrauen wir unserer Bevölkerung mehr als Hitlers Buch. Ein tröstlicher Gedanke an Hitlers 115. Geburtstag.