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Gastspiel im WendlandZwangsbeglückung auf dem Gutshof

Die Allgäuer Bastard-Popband "Rainer von Vielen" und das Junge Schauspiel Hannover schaffen in einer Gegend, die sie den "widerspenstigsten Ort Deutschlands" nennen, die Freiheit ab, und fast alle sind glücklich. Falls nicht, wird exorziert.

Schöne neue Welt: auf dem Gutshof Salderatzen im Wendland wurde sie schon mal geprobt. Bild: Katrin Ribbe

SALDERATZEN taz | Auf der Bundesstraße parkt ein großer weißer Reisebus. Seine Insassen: viele grauhaarige Ehepaare und Frauen in Leinengewändern aus Hannover. Sie überqueren die Fahrbahn, betreten den wendländischen Dorfrundling Salderatzen, gehen vorüber an einem eingewachsenen Fachwerkhaus – „zu verkaufen an Liebhaber/in“ – und stehen im großzügig angelegten Hof des Gutshauses Salderatzen.

Die Busreisenden wollen ins Theaterkonzert „Mythen der Freiheit“, das die Allgäuer Bastard-Pop-Band „Rainer von Vielen“ und das Junge Schauspiel Hannover nach Salderatzen ins Wendland bringen, an den „widerspenstigsten Ort Deutschlands“, bevor es im Herbst nach Hannover kommt. In der Abendsonne, zwischen Findlingssteinen, Rosenblüten und Lavendel genehmigen sich die Gäste Weißweinschorle und wendländisches Bier. Ein vegetarischer Burger kostet 2,50 Euro. Ein Mann mit weißem Strickpulli über der Schulter sinniert vor dem Hühnergehege.

Backstage kabbeln sich ein paar Männer, die später auf der Bühne zu sehen sein werden. Backstage, das ist in diesem Fall hinter der Scheune und vor dem Gartenteich, sozusagen mitten auf der Wiese. Im Innern der Scheune, die als Theatersaal fungiert, verkündet eine überdimensionale Todesanzeige den „Tod der Freiheit“. Der Saal ist voll, die Hälfte der Leute muss stehen, weil später getanzt werden soll.

Das Stück fällt mit der Tür ins Haus. Rasant und penetrant wird man in die Erziehungskünste eines Paares einbezogen, das vom Bühnenrand aus verzweifelt versucht, seinem Sohn etwas nahe zu bringen. Die Eltern möchten ihn nicht beschränken, erwarten trotzdem Manieren und treten sich mit ihrer Inkonsequenz selbst auf die Füße.

Ein Paradebeispiel an gescheiterter Freiheit: die antiautoritäre Erziehung, bei der sowohl Eltern als auch Kind völlig überfordert sind. Das Publikum muss ob des Wortwitzes lachen, aber das Kind, das „doch nicht bei Aldi an der Kasse landen“ soll, lässt seine Mutter gerade noch sagen: „Du sollst nach Möglichkeit nicht deinen Vater umbringen?“, da fällt sie selbst ihrem Sohn zum Opfer. Das alles ist wohl nur ein Traum, in dem der Junge aber völlig allein auf einer menschenleeren Welt erwacht, alle gelernten Regeln dekonstruiert und letztlich die Atombombe zündet: das passiert als Ergebnis völliger, sinnentleerter Freiheit. Das Fazit ist: die Freiheit ist verkommen, „wir sind alle leer“.

Die Frau auf der Bühne im weißen Plastikkleid nickt resigniert und erschöpft, weil im „tu, was du willst“ zu viele Möglichkeiten liegen. Und dann ist es soweit: Der „Anti-Freist“ wird beschworen. Eine Figur, die aus einem überdimensionalem, später als Reliquie ausgestellten Ei schlüpft und sich in dem zitternden, erwartungsgeladenen Saal wie ein Sektenführer in Rage predigt. Das Publikum und die Bühnenakteure werden seine Anhänger, die „liebe Versammlung“.

Es gebe zwei Arten von Freiheit, erklärt der Sektenführer: die eine ist gefährlich, die andere gibt es nicht. Er redet von der Freiheit der Finanzmärkte, der Presse, der Liebe, der Wissenschaft. Die „andere Freiheit“, die „individuelle“, existiere nicht einmal, weil niemand allein auf der Welt sei.

So langsam wissen die Zuschauer einzuordnen, wo sie hier gelandet sind. Der Plan des Sektenführers sieht die Abschaffung aller Freiheiten weltweit und damit die Rettung der Menschheit vor. „Die Versammlung“ soll ihm mit einem adaptierten, christlichen Lobgesang huldigen. Ein paar lassen sich überzeugen, dazu aufzustehen, doch auch die eifrigsten Anhänger befällt immer wieder Zweifel. Die junge Frau liebt zwar ihren Freund, aber sie „weiß einfach, dass er ihr nicht alles geben kann“. Der Sektenführer schlägt eine Heiratslotterie vor, Entscheidungen muss man hier nicht selbst fällen, und fängt damit an, die Gäste zu vermitteln, die sich auf einmal neben ganz anderen Sitznachbarn wiederfinden.

Überhaupt hat das Publikum zu leiden, von Entspannung kann keine Rede sein. Um zu demonstrieren, dass der Mensch mit Freiheit sowieso nichts anfangen kann, pickt der Sektenführer sich „Anna aus Lüneburg“ aus der Menge heraus und stellt sie auf den „Freiheitsspot“. Dort soll sie fünfzehn Minuten „frei“ entscheiden, was sie tun möchte. Anna löst das elegant, indem sie zu meditieren beginnt. Der Sektenführer sieht sich allerdings bestätigt: Klar, sie flieht sich in eine „Ersatzreligion“. Anna aus Lüneburg schreitet trotzdem vom Mittelsteg, als hätte sie einen Preis gewonnen.

Der Sektenführer predigt weiter gegen die Freiheit, auch Goethes Zauberlehrling verliert einen Satz dazu: „In die Ecke, Besen! Besen!?“ Anna aus Lüneburg tanzt mit breitem Grinsen im Gesicht, die Arme in der Luft, als hätte sie eine Performance einstudiert, als ein Abtrünniger auftritt. Er kann nicht begreifen, dass so viele, die für die Freiheit gekämpft haben, umsonst gestorben sein sollen, die Verzweiflung zwingt ihn in die Knie, er muss vom Sektenführer persönlich überwältigt und exorziert werden, was in schier unerträglicher Lautstärke erfolgt. Das Publikum versinkt in „Fort mit der Freiheit!“-Skandierungen und möchte jetzt eigentlich gern gehen, weil Prediger und Anhänger zappeln und zucken wie nach zwei Tagen auf Speed.

Doch nach der völligen Verausgabung kommt die Erlösung. Der alte Freiheits-Staat wird abgeschafft, im neuen System gibt es keine Freiheit und keine Strafe mehr, nur noch Verantwortung. Eine revolutionäre Faszination macht sich breit, die entzückende Erkenntnis der richtigen Welt, und in dieser Welt wird jetzt auf jeden Fall gefeiert. Manche gucken immer noch erstaunt, als fragten sie sich, ob sie das Stück richtig verstanden haben. Der Rest tanzt in Salderatzen die konservative Revolution, allen voran Anna aus Lüneburg.

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